Sie schaltete
das Licht im Flur ein und strich ihre Schuhe von den Füßen. Einen Moment
horchte sie nach dem Kater, aber er ließ sich nicht blicken.
Noah stand
neben ihr im Flur, abwartend, schweigend, die Hände in den Taschen.
Sie ging an ihm
vorbei, in ihr Schlafzimmer. Es war eine intuitive Entscheidung, dort
hineinzugehen. Hätte sie vertieft darüber nachgedacht, hätte sie es vermutlich
nicht getan. Die Eindeutigkeit, die darin lag, war beängstigend.
Befangen trat
sie zum Fenster und sah kurz hinaus. Kein Mensch war zu sehen. Das war
beruhigend, nach gestern Nacht. Was sie ganz und gar nicht beruhigte war das
Wissen, dass Noah in ihrer Nähe war. Sie machte ihre Nachttischlampe an und
wandte sich zu ihm um. Er stand in der Tür und betrachtete sie.
»Willst du
etwas trinken?«, fragte sie durch den Raum hinweg.
»Nein.«
»Willst du
etwas essen?«
»Nein.«
Sie wechselten Blicke. Es war, als spielte er ihr einen unsichtbaren
Ball zu und sie konnte das nun einfach ignorieren und den Ball zu Boden fallen
lassen. Oder ihn fangen.
Sie machte
kehrt, trat auf ihn zu. Seine Haut war durch das Licht der kleinen Lampe warm
erhellt.
Ihr fiel eine
Tätowierung an der Innenseite seines rechten Unterarms auf, die sie schon am
Vortag flüchtig gesehen hatte. Es war eine Uhr oder eher ein Ziffernblatt mit
zwei Zeigern, die auf vier Uhr in der Nacht oder auch am Nachmittag standen. An
einer Seite war das Ziffernblatt zersplittert und seine Scherben lösten sich in
schwarze Vögel auf.
Sie zeigte
darauf. »Was bedeutet es?«
»Es erinnert
mich, wie sich mein Leben verändert hat.«
»Auf eine gute
Art?«
»Wie sieht es
denn für dich aus?«
Linda wandte
seinen Arm leicht zu sich, musterte das Bild eingehend. »Es sieht düster aus.
Traurig.«
»Findest du?
Ich finde es nicht traurig. Die Vögel sind frei.«
Frei. Es gab nur wenige Worte, in denen so viel Kraft
lag. Wie auch in Liebe. Oder Sehnsucht.
Sie hob einen
Finger und tippte vorsichtig auf das Ziffernblatt an seinem Unterarm, fuhr mit
ihrer Kuppe bis zu seinem Bizeps hoch. Orientalische Muster, Blätter, Ornamente,
ein kreisrundes Gebilde wie ein Mandala, alles mit schwarzer Tinte in die Haut
gestochen.
Die Spannung zwischen ihnen war unerträglich.
Mit einem Ruck
zog er sein Shirt aus und Linda war erneut wie gebannt von der Sportlichkeit
seines Körpers, aber auch unerwartet betroffen. Sein gesamter Brustbereich war
bandagiert. An der linken Schulter hatte er eine handtellergroße Schürfwunde,
die ihr gestern noch gar nicht aufgefallen war. Mitgefühl flutete sie wie ein
Schwall warmes Wasser, gefolgt von der zähen, kriechenden Masse der Erkenntnis,
dass ihr am Abend zuvor etwas derart Schreckliches passiert war.
Möglicherweise spürte er die Beklommenheit oder bemerkte auch nur den Schatten auf ihrem Gesicht, jedenfalls fasste er ihr Kinn und sagte: »Nicht.«
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