Sonntag, 24. Juli 2022

[Schnipseltime] Fallen von Jes Schön

 


Setz dich in den Wagen und lass mich die Angelegenheit regeln.“ Meine Stimme ist eisig und duldet keinen Widerspruch. Indem ich sie energisch am Arm fasse und auf der Beifahrerseite auf den Sitz drücke, unterbinde ich ihre Entgegnung. Mit meiner aufgestauten Rage werfe ich die Tür zu und widme mich der auf dem kalten Boden sitzenden Frau.

„Entschuldigen Sie bitte! Wie geht es Ihrem Kopf?“, erkundige ich mich höflich.

„Er schmerzt. Es ginge mir besser, würde mir jemand aufhelfen.“

Ihre Stimme klingt rau und zittrig. Einer der Sanitäter packt sie unter den Achseln und ich halte ihr meine Hand hin, um sie auf die Beine zu ziehen. Der Sanitäter lässt sie los. Ihre Beine knicken ein und sie fällt wie ein nasser Sack nach vorne, schnurstracks in meine Arme hinein.

Behutsam halte ich sie fest und streichle ihr sachte über den Rücken. Ein Hauch Zitrone mischt sich unter den stechenden Kupfergeruch ihres Blutes, das inzwischen einen Großteil ihres Haares verklebt hat. Sie zittert am ganzen Leib.

„Es geht wohl nicht besser.“

„Ich brauche ein paar Sekunden“, nuschelt sie an meiner Brust lehnend. Ich gebe ihr Zeit und halte sie fest.

„Danke“, sagt sie schließlich und löst sich von mir.

Einer der Sanitäter kommt mit der Trage aus dem Krankenwagen und bittet sie, sich hinzusetzen, um sie ins Krankenhaus bringen zu können. Ihre Gesichtszüge entgleiten ihr. Sie legt eine strenge Miene auf und lehnt barsch ab.

„Sie haben eine Kopfverletzung, das muss sich ein Arzt ansehen“, wende ich ein und ernte einen erbosten Blick.

„Ich muss zur Arbeit, ich bin inzwischen viel zu spät.“

„Sie gehören in ein Krankenhaus, um sich durchchecken zu lassen. Fahren Sie nicht freiwillig mit den beiden Herren mit, werde ich Sie eigenhändig in der Notaufnahme einliefern“, maule ich sie missmutig an.

Ihr wütender Blick funkelt mich an und sekundenlang liefern wir uns ein stummes Gefecht. Ein neuerliches Schwanken und ein resigniertes Seufzen bestätigen mir, dass ich der Sieger unseres kleinen Zweikampfes bin. Wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, lässt sie sich zur Trage bringen und legt sich hin.

 


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