Montag, 27. Juni 2022

[Schnipseltime] Applikation von Tilo Rieck

 

Kapitel 1

Jörn war schon unzählige Male an diesem Ort, doch er erkannte nichts. Ein Schimmer stieg vor ihm auf und verblasste in der Sekunde, in der er versuchte, einen Blick davon zu erhaschen.

„Was ist mit mir los?“

Nachdem Jörn diesen Satz beinahe pausenlos in seinen Gedanken vor sich hingesprochen hatte, schrie er nun. Er schrie so laut, dass er sich dabei die Hände auf die Ohren legte. Dennoch verließ kein Laut seine Lippen. Dann ein Stöhnen hinter ihm. Jörn drehte seinen Hals fast zweimal um die eigene Achse, doch er sah nur Farben. Nicht irgendwelche Farben, er sah sie alle. Jetzt kamen gefletschte Zähne auf ihn zu, doch sie saßen nicht in einem Kiefer, geschweige denn in einem Tier oder einem Menschen. Sie kamen näher und schwebten so weit auseinander, dass er, statt wegzulaufen, durch sie hindurch stieg. Er ging nur einen Schritt zurück, sodass er etwas weiter vorne stand. Die Zähne prasselten auf den Boden, der allem Anschein nach aus Knochen gefertigt war. Eine schneeweiße Ente fing an zu picken und bei jedem einzelnen Stoß brach ein weiteres Stück aus dem Schnabel, welches sie, wie besessen, unter Schmerzen herunterwürgte. Schon bald schlug nur noch ihr blutender Schädel auf, doch sie pickte unermüdlich weiter. Selbst als ihr Hals brach und unkontrolliert herumschleuderte, stoppte sie nicht. Jörn schloss die Augen, doch seine Lider waren aus Glas.

 Es muss irgendein Rausch sein.

Klare Gedanken vermengten sich mit unklaren. Aber welche waren welche? Die leuchtenden Farben mischten sich so oft, dass nur noch ein tiefes Schwarz seinen Blick erhellte. Hunderte Schatten glitten an Jörn vorbei und berührten ihn. Erst sanft, dann nass, dann ein derber Stoß, der ihn zu Boden riss. Er stand allein auf dem Fischmarkt und die Wände kamen auf ihn zu. In Wellen schwammen die Mauern in seine Richtung und das Wasser der Elbe stieg an seinen Beinen empor. Trockenen Fußes versuchte er auf den Berg zu fliehen. Jörn klammerte sich weiter mit seiner ganzen Kraft an einen Felsvorsprung, obwohl seine Nägel allesamt aus den Fingerspitzen rissen. Tausende Ameisen krabbelten über seinen Körper. Jörn versuchte sie abzustreifen, doch jede einzelne, die er berührte, verwandelte sich in eine dürre Made, die seine Haut einen Spalt öffnete, um in ihm weiter zu kriechen. Alles roch nach Strom. Seit Stunden kämpfte er gegen seine Gedanken und die Angst verdoppelte sich in jeder Sekunde.

Ausgezehrt!

Beinahe leblos zuckte sein Körper nur noch. Unaufhörlich durchdrangen ihn neue, immer absurdere Ideen. Der Rasen wuchs durch seinen Leib und hielt ihn am Boden. Jörn musste mit ansehen, wie eine Antilope beim Grasen, Stück für Stück seinen Bauch aufriss. Der Geschmack von Blut verteilte sich in seinem Mund. Jörn sah an sich herunter. Er stand auf allen Vieren und würgte an einem großen Stück Fleisch. Er selbst war die Antilope und biss sich, wie von Sinnen, immer wieder in seinen rechten Arm. Angewidert und vor Schmerz der Ohnmacht nahe, konnte er nicht aufhören sich zu fressen. Erst als seine Zähne auf einen Knochen stießen und ihm aus dem Kiefer brachen, sackte er erneut zusammen. Die Luft schmeckte nach glühendem Stahl und er wagte es nicht mehr zu atmen.

Um 4 Uhr morgens rollte der erste Transporter auf das Gelände des Marktes. Der betörende Duft von geräuchertem Fisch folgte dem Wagen über das Kopfsteinpflaster. Die schwache Morgenröte schaffte es nicht, den Platz zu erhellen. Begleitet von einem quietschenden Pfeifen und einem weißen Licht rastete das Getriebe in den Rückwärtsgang. Der Kegel der Lampe nahm die Dunkelheit von einer leblosen Person. Erschrocken riss der Fahrer die Handbremse hoch und stieg aus dem Wagen. Der Mann am Boden war weiß, um die vierzig Jahre alt und wies keine Verletzungen auf. Er schien zu schlafen.

„Hey! Wach auf! Willst du überfahren werden oder was!“

Ja, der Schnaps ist eine gefährliche Geliebte.  

Doch auch ein kleiner Schubs mit dem Fuß schien den vermeintlichen Trunkenbold nicht zu erwecken.

Komm! Mach kein‘ Scheiß jetzt.

Ein ungeübter Griff an den Hals sorgte für Klarheit und mit einem weiteren Griff holte der Fahrer sein Telefon aus der Tasche.

Kaum fünf Minuten später rotierte ein blaues Licht über Hamburgs berühmtesten Marktplatz. Von vielen Einsätzen gezeichnet, schnellte der Sanitäter zu dem regungslosen Mann. Leider erhielt er nicht die Möglichkeit seinen Dienst mit einer Erfolgsgeschichte zu beenden. Ohne Frage hätte der Rettungsassistent diese gebrauchen können.

„Leichenflecken und Leichenstarre ausgeprägt“, unterrichtete er seine Kollegin.

„Der ist tot“, wendete sich der Sani anschließend zu dem Finder der Leiche.

Was aber genau geschehen war, vermochte der Sanitäter nicht zu sagen. Er verständigte die Polizei. Sobald sich ein Verbrechen nicht ausschließen ließ, kam man an den Kollegen in Blau nicht vorbei. Also Gerichtsmedizin, Leichenschau, Blutentnahme.

 


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