
„Weißt du“, sagte
Ava, „ich finde es bemerkenswert und nicht selbstverständlich, dass du mich so
bei meinen Recherchen unterstützt, obwohl du glaubst, dass sie mir nicht
guttun. Ich bin dir sehr dankbar dafür.“
„Es geht nicht darum, ob ich etwas gutheiße, was du für dich entscheidest.
Jemanden bedingungslos zu lieben, du erinnerst dich, bedeutet, seine Ziele und
Wünsche mitzutragen, die Schritte gemeinsam zu gehen, unabhängig von der
eigenen Meinung.“
Sie schaute ihn
an. Manchmal erschien ihr Toma wie das Abbild der verflossenen Erinnerung an
einen vor langer Zeit geträumten Traum. Die Facetten seiner Persönlichkeit, die
Art, wie er sie behandelte, das alles war so surreal, dass es Bruchteile von
Sekunden gab, in denen Ava hätte schwören können, sie denke ihn sich aus. Dann
wirkte er wie ein imaginärer Begleiter, eine Art Gegenpol zu ihrem ständigen
Streben nach Kontrolle und Informationen. Ein sanfter Gegenspieler, ein
Korrekteur ihrer eventualiteren Verfehlungen, die sie sich nicht eingestehen
wollte. Dann wieder, in anderen Momenten, schien er so greifbar und normal,
dass sich solche Gedanken nicht ergaben. Zum Beispiel, wenn sie sich in
Gesellschaft befanden. Und abermals intensivierte sich hier in Venedig der
Eindruck, dass sich seit Mitte des letzten Jahres ein alternatives Leben
auftat. Eine Parallelwelt, die zu ihrer eigentlichen daheim in München wuchs,
in rasantem Tempo das Terrain in ihrem Inneren eroberte, eine neue Realität
erschaffend, auf die sie sich nicht in Gänze einlassen konnte. Es würde immer
schwerer werden, beide Welten zu verbinden, das war Ava mittlerweile klar. Wie
sie damit umgehen sollte, konnte sie bislang nicht beantworten. Und nun lag ein
Moment vor ihr, der jene Diskrepanz kaum greifbar aufzuheben versuchte: Die
Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit, der Rachel zum Opfer
gefallen war, intensivierte sich in den Gassen des Gheto Novo. Ava fragte sich,
ob einige der Deportierten seinerzeit in Birkenau angekommen waren, ob gar
jemand Rachel begegnet sein könnte. Ob es eine Kreuzung der Lebenswege gegeben
hatte. Und ob sie über dasselbe Pflaster schritt, über das eine junge Jüdin
gelaufen war, die später neben Rachel beim Morgenappell gestanden hatte. Wieder
schwirrte ihr Kopf. Sie musste sich danach erkundigen, wenn sie zurück zu Hause
sein würde. Sie liefen an weiteren Wolkenkratzern vorbei, siebenstöckig, eines
höher als das andere, dazwischen ein Spalt, man konnte es nicht mehr Gasse
nennen, als würden die Kolosse einander stützen.
„Im Zwischenraum befand sich früher die scala mata, die verrückte Treppe, von
der ich eben sprach“, erklärte Toma. „Eine Außentreppe, um innen mehr Platz zu
haben. Eine eher primitive Holzkonstruktion, über die ich mir vorstelle, dass
ihre Begehung nicht ohne Risiko war. Man stelle sich vor, man hätte Kinder oder
Ziegen bei sich, die nach oben gebracht werden mussten. – Wir sind im Übrigen
angekommen. Hier beginnt die Calle del Forno.“
Ava blieb stehen und schaute sich um. Rechts der bizarren Zwillingsgebäude
begann eine schmale Gasse, die den vorderen der beiden Giganten umfloss. Sie
folgten der Biegung und fanden sich in einer Halbschlucht: linksseitig der
achtstöckige Koloss, rechts ein grotesk niedriges Gemäuer mit einer einzigen
Etage. Ava nahm Giulianos Kamera und schoss ein Foto. Dann lief sie ein paar
Schritte weiter und ging in die Hocke, um die Gasse aus der Perspektive eines
Kindes zu betrachten, so, wie Rachel es sich gewünscht hatte. Die
venezianischen Hochhäuser schienen die Calle zu verdunkeln. Die Trübe des
Nebels tat ihr Übriges. Beklommenheit erfüllte Avas Brust. Winterliche Kälte
kroch über ihre Arme. Doch sie hätte schwören können, dass diese nicht von
außen eindrang, sondern seinen Ursprung unterhalb ihrer Kleidung hatte. Was
hatte Rachel ihr verheimlicht? Weshalb wollte sie so dringend einen visuellen
Eindruck von dieser Gasse erhalten? Wieso aus der Perspektive eines Kindes? Ava
lief ein Stück und fertigte ein paar weitere Fotos an, während Toma in einigen
Metern Abstand hinter ihr blieb und sie beobachtete. Als Ava Halt machte und
sich den Kopf hielt, kam er zu ihr. „Va tutto bene? Ist alles gut?“
„Etwas gruselt mich“, sagte Ava, ohne den Blick von der dunstgrauen Gasse zu
richten. „Es ist, als wären sie hier: die Geister der Verschleppten. Ich frage
mich, was Rachel mir zu erzählen hat.“
„Du glaubst, ihr Wunsch, mehr aus diesem Viertel zu erfahren, hat etwas mit
Auschwitz zu tun?“
„Woher sollte sonst ihr Interesse kommen?“
„Vielleicht hat sie Verwandtschaft hier? Verschollene? Menschen, die in der
Zeit damals verloren gingen?“
„Mensch, Toma! Du hast recht! Ich habe Rachel nie gefragt, ob sie Verwandte in
Italien hat. Glaubst du, sie kennt die Calle del Forno aus Briefen von früher?
Oder gar von Besuchen?“
„Wäre doch möglich.“
„Aber wieso die kindliche Perspektive?“
„Vielleicht, weil sie selbst als Kind hier war?“
„Oder weil sie …“
„Ava?“
„Es graust mich, es auszusprechen …“
„Was?“
„Was, wenn sie einem venezianischen Kind in Birkenau begegnet ist?“
„Und ein Geheimnis daraus macht, weil …“
„... weil das Berichten darüber sie zu sehr belastet.“
„Oh, Ava!“ Toma zog sie an sich und umarmte sie lange. Sie fröstelte. „Du musst
sie fragen, wenn du wieder daheim bist.“
„Ich weiß.“
„Sollen wir zurückgehen?“
„Nein, ich möchte noch einmal in die Nähe der hohen Gebäude. Daneben lag ein
Campiello, den würde ich gerne noch sehen. Ich will nachvollziehen können, wie
es gewesen sein muss, hier zu leben. Vor der Deportation.“
„D'accordo. Einverstanden. Vom Campiello del le scuole aus gelangen wir an den
Ausläufer der Calle Gheto Vecchio. Dort gibt es eine Haltestelle. Guglie. Von
der aus können wir zurückfahren.“
Sie liefen an den
hohen Gebäuden vorbei, rechts um die Ecke auf den winzigen Platz, in dessen
Mitte ein alter, abgedeckter Brunnen stand. Ava betrachtete einen weiteren
achtstöckigen Wolkenkratzer, der im bodennahen Nebel zu versinken schien.
„Toma?“
„Si?“
„Weißt du, wie viele Juden nach Venezia zurückgekehrt sind?“
Er wartete einen Moment, bis er antwortete. „Die wenigsten, Ava. Zur Zeit der
Deportationen lebten nur noch etwa 250 Juden hier. Viele waren zuvor
geflüchtet. Von den rund zweihundert Verschleppten haben nicht mal zehn die
Shoah überlebt. Ich weiß nicht, ob einer unter ihnen aus Auschwitz zurückkam.“
Ava schluckte schwer, sagte aber nichts. Obgleich sie es besser wusste, konnte
sie sich des Eindrucks nicht erwehren, in einer entvölkerten Gegend zu stehen.
Gleich alten Mahnmalen eines verlassenen Distriktes, das im über allem
schwebenden Schrecken nicht mehr wiederzubeleben war.
„Doch, hier wohnen Menschen“, versuchte Toma sie zu beruhigen, als sie ihm ihre
Gedanken mitteilte. „Ganz normale Veneziani.“
Doch Avas Assoziationen überwältigten sie. Sie verlor den Halt, ihre
Bemühungen, in der Gegenwart zu bleiben, schwanden. Es war, als machte sie eine
Zeitreise, im Sog der Vergangenheit zurückwandernd zu jenem Moment, in dem das
Ghetto von so vielen verlassen worden war. Freiwillig oder unfreiwillig. Die
Häuser waren leer gefegt, kein Laut war zu hören. Der Dunst waberte suchend
durch die Gassen, Schwaden gräulichen Grüns, das wie aus dem Totenreich
emporzusteigen schien. Mahnend, was mit den Menschen geschehen würde, die
soeben verschleppt worden waren. Männer, Frauen, Kinder ... Ein jähes,
schneidendes Geräusch zerriss die Stille. Ava hatte ruckartig Luft in ihre
Lungen gesogen. Sie starrte auf eines der Fenster des Gebäudes, das direkt vor
ihnen lag, die Augen aufgerissen. Dort oben war ein Gesicht erschienen.
Schemenhaft, alt, hell. Augenblicklich war es wieder verschwunden. Ein
namenloses Grauen durchfuhr sie. Wer hielt sich in einem der leer geräumten
Bauten auf? Dort lebte niemand. Hatte sie einen Geist gesehen? Den Geist einer
ermordeten Bewohnerin von 1943?
„Was ist los, Ava?“, fragte Toma. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Dort oben …“, Ava deutete auf die Stelle, an der sich die Erscheinung wenige
Sekunden zuvor gezeigt hatte. „Dort ist jemand.“
Toma runzelte die Stirn und suchte mit seinen Blicken angestrengt die Fenster
des Gebäudes ab. „Ich sehe niemanden. Und selbst wenn ...“
„Es scheint, als könne hier niemand wohnen.“
Toma blickte Ava besorgt an: „Ich sage dir doch: dieses Viertel ist
bewohnt. Die Häuser mögen alt aussehen, vielleicht auch unbewohnt. Aber wir
leben nicht in den Vierzigern, Ava. Es ist heute. 1970. Die Gegenwart. – Wie
sah denn derjenige aus?“
„Es war das Gesicht einer alten Frau, ganz fahl. Gruselig. Ich habe es nur für
den Bruchteil einer Sekunde gesehen.“
„Vielleicht spukt es hier“, überlegte Toma.
„Lass uns gehen. Ich glaube nicht an Geister, aber ich will auch nicht heute
damit anfangen müssen. Vielleicht habe ich mir die Erscheinung auch nur
eingebildet. Ich war gerade in so einer komischen Stimmung… Ich grusele mich.
Lass uns lieber gehen.“
„Nein, warte. Ich möchte, dass du die Chance bekommst, herauszufinden, wer dich
angeschaut hat. Wenn es dich ehrlich ängstigt und du Sorge hast, an Geister
glauben zu müssen–“.
„Tue ich definitiv nicht!“
„Dann umso besser: beweise es dir. Lass uns warten und schauen, ob sie sich
wieder zeigt. Wenn es eine alte Nonna ist, ist sie sicher neugierig und späht
gleich erneut durchs Fenster. Es würde mich nicht wundern, wenn – da! Schau
doch!“ Er deutete nach oben, wo abermals die helle Gestalt erschienen war. Toma
begann, eifrig zu winken. Die Alte behielt ihre versteinerte Mimik bei, winkte
zaghaft zurück. Toma gestikulierte einige Male, bis sie begriff, dass sie das
Fenster öffnen sollte.
„Signora!“, rief Toma nach oben. „Possiamo salire un attimo da Lei? La mia amica
viene dalla Germania e vorrebbe conoscere la storia del quartiere. Sta facendo
delle ricerche sulla Resistenza e sulla deportazione degli ebrei durante
l'occupazione tedesca.“
Die alte Dame schien eine
Weile zu überlegen, dann wies sie Toma an, mehr mit einer wegwerfenden, denn
einer einladenden Handbewegung, nach oben zu kommen.
„Was hast du gesagt?“, wollte Ava wissen, der immer noch ein leichter Schauer
über den Rücken lief.
„Ich habe dir die Möglichkeit verschafft, dich mit der Realität
auseinanderzusetzen. – Nicht, dass du mir in irgendwelche komischen Fantasien
abdriftest. Ich habe gefragt, ob wir uns kurz ihre Wohnung anschauen können.
Dass du über die Resistenza und die Deportationen in der Zeit der deutschen
Besatzung recherchierst.“
„Ist das nicht ein wenig aufdringlich?“
„Si, aber fragen kann man doch mal. Und immerhin bist du die Journalistin.
Allzu viele Skrupel sollte man da nicht haben, oder?“ Er lachte. „Außerdem war
es mir das wert, damit du wieder beruhigt bist. Du brauchst doch Informationen
zu deiner Sicherheit. Jetzt bekommst du sie. Und ich garantiere dir: Die Alte
ist kein Geist. Na komm, gehen wir hoch.“
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