Wie die Nächte zuvor träumte er
vom Wasser. Von der kalten, blauen See und ihren immerwährenden Fluten …
Hoch oben stand er auf einer
steilen Klippe aus grauem Gestein. Vor seinen Augen ragte der Ozean in
unendliche Ferne, eingehüllt in finsterste Nacht. In seinen Ohren klang das Rauschen
der Wellen, der Gesang des Wassers …
Nächtlicher Wind pfiff durch
sein Haar, als er näher an den Rand des Abhangs trat. Tief unter ihm brach die
Flut tosend am Fuße des Felsens. Der Vollmond warf silbrigen Glanz vom
rabenschwarzen Horizont hinab auf die wilden Wogen. Die Luft schmeckte salzig.
Weit hinter dem Strand lag die Stadt, sein altes Leben. All das, was vergangen
war. Er war der Stimme des Meeres gefolgt, die ihn leise aus dem Schlaf geweckt
und nach ihm gerufen hatte – dem Ruf, den nur er allein vernahm:
Komm, mein Sohn, drang es aus den dunklen Wellen zu ihm herauf,
zärtlich wie eine Mutter. Tritt näher, Kind!
Seine Füße bewegten sich,
gebannt durch die wundersamen Worte. Je näher er dem Abgrund kam, desto größer
wuchs in ihm das sehnsuchtsvolle Gefühl von … Heimkehr? Unten formte das Wasser
sanfte Gesichter. Noch einen winzigen Schritt – dann würde er einem Stein
gleich den Felsen herabstürzen, im ewigen Ozean versinken und … wäre endlich
wieder zu Haus!
Kehre zurück zu mir!
Langsam breitete er die Arme
aus, um bereitwillig in die Tiefe zu springen. Spürte die steife Brise auf
seinem Gesicht und lauschte dem Flüstern des Meeres; süß wie das Lied einer
Nixe, die sich nach ihm sehnte. Zart und glockenklar rief sie ihn beim Namen: Komm
zu mir, Kyu-Min! Kyu …
»Kyu!«
Er schlug die Augen auf. Erst
endlose Sekunden später dämmerte ihm, wo er eigentlich war: In Julians Zimmer,
neben seinem Freund im Bett, die Decke bis zum Kinn gezogen.
»Is’ … alles okay?«, fragte
Julian schläfrig. Die blauen Augen seines Liebsten betrachteten ihn im
nächtlichen Zwielicht. Blau wie Wasser …
»Ja … W-Wieso, was …?«
»Hast im Schlaf irgendwas
gemurmelt, bin wach geworden … Schlecht geträumt?«
»J… Ne … keine Ahnung …« Müde
richtete Kyu-Min sich auf, das Kissen raschelte. Sein Schädel fühlte sich
benommen an. »Ich … geh kurz was trinken, ja?«
»Mhm, klar.«
Schwerfällig schlüpfte Kyu in
Julians Pantoffeln. In dem dunklen Raum regierte Eiseskälte. Ohne Licht
einzuschalten, schlich er zur Küche. Aus dem Schlafzimmer tönte das betrunkene
Schnarchen von Julians Mutter.
Leise öffnete Kyu-Min den
Kühlschrank und griff nach der Mineralwasserflasche neben dem nur noch halb
vollen Weißwein, den Frau Sanders sich zu ihrer allabendlichen Zeichenstunde
gegönnt hatte. Seine Kehle schien trockener als die staubigste Wüste. Gierig
setzte er den Flaschenhals an die Lippen und nahm einen riesigen Schluck, um
das Prickeln der Kohlensäure auf der Zunge zu genießen. Wasser …
Ein Blick aus dem Fenster
zeigte die einsame Straße. Draußen regnete es in Strömen; dicke Tropfen
prasselten gegen die Scheibe.
Durstig leerte Kyu-Min die
gesamte Flasche, bevor er zurück in Julians Zimmer tapste. Einen Moment hielt
er inne und betrachtete still seinen Freund, der längst wieder seelenruhig
schlummerte. Liebevoll strich Kyu ihm eine seiner blonden Strähnen aus dem
Gesicht, nachdem er ins Bett geklettert war. Schmiegte sich an ihn, schlief ein
… und träumte erneut vom Meer, das sanft seinen Namen rief.
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