Samstag, 7. Dezember 2024

[Schnipseltime] So dunkel das Zwielicht II - Gefangen in ewiger Nacht von Christian Tobias Krug


 

Wie die Nächte zuvor träumte er vom Wasser. Von der kalten, blauen See und ihren immerwährenden Fluten …

Hoch oben stand er auf einer steilen Klippe aus grauem Gestein. Vor seinen Augen ragte der Ozean in unendliche Ferne, eingehüllt in finsterste Nacht. In seinen Ohren klang das Rauschen der Wellen, der Gesang des Wassers …

Nächtlicher Wind pfiff durch sein Haar, als er näher an den Rand des Abhangs trat. Tief unter ihm brach die Flut tosend am Fuße des Felsens. Der Vollmond warf silbrigen Glanz vom rabenschwarzen Horizont hinab auf die wilden Wogen. Die Luft schmeckte salzig. Weit hinter dem Strand lag die Stadt, sein altes Leben. All das, was vergangen war. Er war der Stimme des Meeres gefolgt, die ihn leise aus dem Schlaf geweckt und nach ihm gerufen hatte – dem Ruf, den nur er allein vernahm:

Komm, mein Sohn, drang es aus den dunklen Wellen zu ihm herauf, zärtlich wie eine Mutter. Tritt näher, Kind!

Seine Füße bewegten sich, gebannt durch die wundersamen Worte. Je näher er dem Abgrund kam, desto größer wuchs in ihm das sehnsuchtsvolle Gefühl von … Heimkehr? Unten formte das Wasser sanfte Gesichter. Noch einen winzigen Schritt – dann würde er einem Stein gleich den Felsen herabstürzen, im ewigen Ozean versinken und … wäre endlich wieder zu Haus!

Kehre zurück zu mir!

Langsam breitete er die Arme aus, um bereitwillig in die Tiefe zu springen. Spürte die steife Brise auf seinem Gesicht und lauschte dem Flüstern des Meeres; süß wie das Lied einer Nixe, die sich nach ihm sehnte. Zart und glockenklar rief sie ihn beim Namen: Komm zu mir, Kyu-Min! Kyu …

»Kyu!«

Er schlug die Augen auf. Erst endlose Sekunden später dämmerte ihm, wo er eigentlich war: In Julians Zimmer, neben seinem Freund im Bett, die Decke bis zum Kinn gezogen.

»Is’ … alles okay?«, fragte Julian schläfrig. Die blauen Augen seines Liebsten betrachteten ihn im nächtlichen Zwielicht. Blau wie Wasser …

»Ja … W-Wieso, was …?«

»Hast im Schlaf irgendwas gemurmelt, bin wach geworden … Schlecht geträumt?«

»J… Ne … keine Ahnung …« Müde richtete Kyu-Min sich auf, das Kissen raschelte. Sein Schädel fühlte sich benommen an. »Ich … geh kurz was trinken, ja?«

»Mhm, klar.«

Schwerfällig schlüpfte Kyu in Julians Pantoffeln. In dem dunklen Raum regierte Eiseskälte. Ohne Licht einzuschalten, schlich er zur Küche. Aus dem Schlafzimmer tönte das betrunkene Schnarchen von Julians Mutter.

Leise öffnete Kyu-Min den Kühlschrank und griff nach der Mineralwasserflasche neben dem nur noch halb vollen Weißwein, den Frau Sanders sich zu ihrer allabendlichen Zeichenstunde gegönnt hatte. Seine Kehle schien trockener als die staubigste Wüste. Gierig setzte er den Flaschenhals an die Lippen und nahm einen riesigen Schluck, um das Prickeln der Kohlensäure auf der Zunge zu genießen. Wasser …

Ein Blick aus dem Fenster zeigte die einsame Straße. Draußen regnete es in Strömen; dicke Tropfen prasselten gegen die Scheibe.

Durstig leerte Kyu-Min die gesamte Flasche, bevor er zurück in Julians Zimmer tapste. Einen Moment hielt er inne und betrachtete still seinen Freund, der längst wieder seelenruhig schlummerte. Liebevoll strich Kyu ihm eine seiner blonden Strähnen aus dem Gesicht, nachdem er ins Bett geklettert war. Schmiegte sich an ihn, schlief ein … und träumte erneut vom Meer, das sanft seinen Namen rief.

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