Graziella blieb am Türrahmen des Apartments stehen. Karstens dunkler
Haarschopf überragte alle anderen Anwesenden. Er war gerade in ein Gespräch mit
einem Mitarbeiter der Spurensicherung vertieft, unterbrach dieses aber umgehend
und eilte auf sie zu, als er sie erblickte.
„Gut, dass du endlich hier bist.“
„Hallo, Karsten“, murmelte Graziella, seinen vorwurfsvollen Unterton
ignorierend.
Zunächst ließ sie den Schauplatz auf sich wirken, wie sie das immer tat.
Sie sog alle Eindrücke in sich auf und prägte sich jedes noch so kleine Detail
genauestens ein. Ihre ersten Gedanken am Tatort hatten sich im Nachhinein schon
oft als besonders bedeutend erwiesen. Karsten wusste, dass er sie jetzt nicht
stören durfte, und hielt sich im Hintergrund. Auch wenn ihm das heute sichtlich
schwerfiel.
Grelles Licht durchflutete den Raum; man hatte ihn bis in den letzten
Winkel ausgeleuchtet. Graziella versuchte, alles möglichst objektiv
wahrzunehmen, ohne irgendeine Art von Gefühl aufkommen zu lassen und zunächst
auch ohne zu werten oder Rückschlüsse zu ziehen. Die Kollegen in den weißen
Anzügen, die geschäftig hin und her wuselten, blendete
sie aktiv aus. Stattdessen stellte sie sich das Zimmer in gedämpftem
Licht vor. Wie sähe es hier aus, wenn die zahlreichen Kerzen in den
gusseisernen Halterungen warm leuchten würden?
Das schwere Holzkreuz, der schwarze Metallkäfig, der mit tiefrotem Leder
überzogene Bock und die verschiedenen Sitzmöbel würden in einer stimmungsvollen
Atmosphäre vermutlich bizarre Schatten werfen und weniger abstrakt erscheinen
als in diesem Flutlichtinferno. Jetzt sah Graziella es bildlich vor sich. Ja,
hier konnte man sicherlich abtauchen, dem Alltag auf wundersame Weise
entfliehen und Dinge erleben, die jenseits der realen Welt lagen. Jenseits des
Vorstellbaren.
Bisher hatte sie es noch
vermieden, sich die Leiche genauer anzusehen, doch nun ließ sie ihren Blick
immer engere Kreise ziehen, um ihn schließlich direkt auf die Tote zu richten.
Dieser furchtbare Anblick widerlegte brutal ihre Gedankengänge. Hier konnte man
nicht nur wunderschöne Dinge erleben, man konnte auch bestialisch daran
zugrunde gehen.
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