Dienstag, 22. Oktober 2024

[Schnipseltime] Bizarres Maskenspiel von Eva Schwicker

 

Graziella blieb am Türrahmen des Apartments stehen. Karstens dunkler Haarschopf überragte alle anderen Anwesenden. Er war gerade in ein Gespräch mit einem Mitarbeiter der Spurensicherung vertieft, unterbrach dieses aber umgehend und eilte auf sie zu, als er sie erblickte.

„Gut, dass du endlich hier bist.“

„Hallo, Karsten“, murmelte Graziella, seinen vorwurfsvollen Unterton ignorierend.

Zunächst ließ sie den Schauplatz auf sich wirken, wie sie das immer tat. Sie sog alle Eindrücke in sich auf und prägte sich jedes noch so kleine Detail genauestens ein. Ihre ersten Gedanken am Tatort hatten sich im Nachhinein schon oft als besonders bedeutend erwiesen. Karsten wusste, dass er sie jetzt nicht stören durfte, und hielt sich im Hintergrund. Auch wenn ihm das heute sichtlich schwerfiel.

Grelles Licht durchflutete den Raum; man hatte ihn bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet. Graziella versuchte, alles möglichst objektiv wahrzunehmen, ohne irgendeine Art von Gefühl aufkommen zu lassen und zunächst auch ohne zu werten oder Rückschlüsse zu ziehen. Die Kollegen in den weißen Anzügen, die geschäftig hin und her wuselten, blendete sie aktiv aus. Stattdessen stellte sie sich das Zimmer in gedämpftem Licht vor. Wie sähe es hier aus, wenn die zahlreichen Kerzen in den gusseisernen Halterungen warm leuchten würden?

Das schwere Holzkreuz, der schwarze Metallkäfig, der mit tiefrotem Leder überzogene Bock und die verschiedenen Sitzmöbel würden in einer stimmungsvollen Atmosphäre vermutlich bizarre Schatten werfen und weniger abstrakt erscheinen als in diesem Flutlichtinferno. Jetzt sah Graziella es bildlich vor sich. Ja, hier konnte man sicherlich abtauchen, dem Alltag auf wundersame Weise entfliehen und Dinge erleben, die jenseits der realen Welt lagen. Jenseits des Vorstellbaren.

Bisher hatte sie es noch vermieden, sich die Leiche genauer anzusehen, doch nun ließ sie ihren Blick immer engere Kreise ziehen, um ihn schließlich direkt auf die Tote zu richten. Dieser furchtbare Anblick widerlegte brutal ihre Gedankengänge. Hier konnte man nicht nur wunderschöne Dinge erleben, man konnte auch bestialisch daran zugrunde gehen.


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