Sonntag, 4. Juni 2023

[Schnipseltime] Sohn der Dämmerwölfin von Christina Krüger

 

Mitten in der Nacht wurde Askan vom leisen Rascheln der Vorhänge geweckt. Im Schein des eindringenden Vollmondes sah er den Schemen hinauseilen und über den Balkon verschwinden. Hellwach schoss er in die Höhe und sah hinüber zum Canapé. Kadir war fort und eine eigenartige Vorahnung begehrte in ihm auf. Warum sollte Kadir sich mitten in der Nacht über den Balkon davonstehlen? Sicher nicht um seinen Hunger zu stillen.

Seine Entscheidung fiel schnell. Er schlüpfte in Tunika und Sandalen und schnappte sich den Gürtel samt Kurzschwert. Er trat auf den Balkon und sah Kadir auf der zypressenbewachsenen Allee, die sich den Hügel hinab in die Stadt wand, davoneilen. Zikadengezirpe surrte ihm entgegen und die Düfte von Lavendel und reifenden Trauben schwängerten die Luft. Hinter aufziehenden Quellwolken funkelten die Sterne und der Vollmond.

Über die Efeuranken kletterte er hinab und wunderte sich, wie flink Kadir dort hinuntergekommen war. Askan musste rennen, um aufzuschließen. Dabei stellte er sich so ungeschickt an, dass Kadir auf der Straße innehielt und Askan sich im letzten Moment hinter einen Baum rettete. Ob er bemerkt wurde, wusste Askan nicht, doch Kadir eilte weiter.

Er verfolgte ihn in die Stadt, durch die verwinkelten Gassen und bis zu den botanischen Gärten des Tempels. Askan verbarg sich hinter dornigen Rosenbüschen und hielt den Atem an, als er eine Gestalt am Springbrunnen bemerkte. Kadir blieb vor ihr stehen. Sie lüftete ihre Kapuze und Askan erkannte eine Frau in einem dunklen Mantel. Sie rief Kadirs Namen und sprach ihn mit Worten aus der Wüste an. Darauf schoss Kadir auf sie zu und riss sie in seine Arme. Dann löste er sich wieder von ihr und sie redeten aufeinander ein. All das roch gewaltig nach Ärger, zugleich faszinierte Askan was er sah. Wer bei den Göttern war Kadir? Und wer konnte die Frau sein, die offenbar aus der Wüste stammte, doch trug sie die weiße Novizinnen-Robe des Klerus unter ihrer Stola. Askan kannte nur eine vom Wüstenvolk. Ein Mädchen aus dem Tempel – Kleora, die Pharaonentochter. Die Prinzessin, die im Morgengrauen den Kaisersohn des Imperiums heiraten und die Wüstenlande endgültig mit Aquilien vereinen sollte.

Für einen Augenblick kehrte Totenstille in seine Gedanken ein. Er verzog das Gesicht und betrachtete das Blattwerk vor sich. Was hatte Kadir mit ihr zu schaffen? Wer war er? Ein Verwandter? Ein Rebell? Ihr Liebhaber?

„Die wollen doch nicht etwa türmen?“, murmelte Askan. Kaum hatte er das laut ausgesprochen, waren die beiden verschwunden.

Askan verfluchte sich innerlich. Diese Dummheit konnte er nicht zulassen. Sollte jemand die zwei Ausreißer finden und Kadir der Entführung der Pharaonentochter angeklagt werden, würde dies für Askan unvorhersehbare Konsequenzen haben. Ein Herr bürgte stets für seinen Sklaven.

„So ein Mist“, knurrte er und stürmte in die Richtung, wo er die beiden vermutete. Askan musste sie finden – um jeden Preis. Er eilte tiefer in die Stadt, hielt immer wieder, rang nach Atem und überlegte. Vielleicht sollte er es in einer der Tavernen versuchen, dort gab es Söldner anzumieten. Eine ganze Stunde durchsuchte er die Spelunken im Hafenviertel ab, ohne jegliche Spur. Als er die Hoffnung schon aufgegeben hatte, wollte er zumindest am Pier nachschauen, bei einem der zwielichtigen Piratenboote und Schmuggler.

Die Nachtluft schlug Askan schwül ins Gesicht. Der Schweiß tropfte aus jeder seiner Poren. Er lief durch die verwinkelten Gassen, in deren Ecken und Winkeln sich Liebestrunkene in den Armen der Huren und Lustknaben tummelten. Am Nachthimmel zogen schnelle Wolkenfetzen vorbei und verdeckten gelegentlich den Mond. Er bog in eine Nebengasse, welche zur Brücke über den Fluss führte, bis er an den menschenleeren Kai gelangte. Bis auf Fischerboote, eine Katze auf der Pirsch und leeren Netzen war es einsam. Nur leichte Wellen krachten gegen die Kaimauer. Er nahm einen tiefen Atemzug der salzigen Seeluft und raufte sich das Haar. Eine Bewegung vor ihm, aus der Deckung einer Fischerhütte heraus, erregte seine Aufmerksamkeit. Endlich! Geduckte Gestalten in wehenden Kapuzenmänteln eilten durch die Dunkelheit. Kurz darauf folgten zwei bullige Kerle in abgewetzter Kleidung.

Ein hoher Schrei ertönte. Mit gezogenem Schwert hastete Askan den Männern nach.

„Lasst mich los!“, quietschte die Pharaonentochter.

„Du gehörst mir, du Hübsche. Dachtest wohl, du kannst dich mit deinem Liebhaber von dannen mach, heh?“, gab einer der Kerle von sich.

Kadir schubste ihn zur Seite und stellte sich den größeren Angreifern entgegen. „Nehmt eure Pfoten von ihr.“

Die Kerle lachten unbeeindruckt. Einer zückte ein Messer. „Mal sehen, ob du noch immer so wehrhaft bist, wenn ich dich ausbluten lasse wie ein Schwein.“ Die junge Frau schrie erneut. Kadir duckte sich geschickt unter der Attacke weg. Er schlug dem Fremden schnell wie eine Schlange mitten ins Gesicht, packte ihn mit beiden Händen und schleuderte ihn über die Hüfte. Der Kerl flog über den schmächtigeren Zyrren hinweg und landete auf dem Hintern.

„Verschwindet, Kleora“, rief Kadir.

Askan war nur wenige Schritte entfernt und brodelte vor Wut.

„Achtung!“, schrie die junge Frau.

Zu spät. Der andere Kerl hatte sein Messer gezückt und rammte es Kadir in einem Moment der Unachtsamkeit von hinten in den Rücken. Kadir brüllte vor Schmerz auf und sank in die Knie. Der bullige Angreifer packte ihn am Hinterkopf und riss ihm die Klinge brutal aus dem Fleisch. „Stirb, du kleiner Mistkerl!“

 Endlich, Askan näherte sich unbemerkt und drückte ihm sein Schwert von hinten an die Kehle. „Du dämlicher Mistkerl verpisst dich jetzt besser“, raunte er und verlieh seinen Worten mit der Klinge mehr Nachdruck. Der Kerl schnellte herum und fuchtelte mit dem Messer um sich. Askan duckte sich unter einem Hieb hinweg. Das Messer rauschte knapp an seiner Wange vorbei. Der Kumpane kämpfte sich auf seine Füße zurück, zückte ein schartiges Schwert und griff Askan an.

Askan parierte den Schlag und der Angreifer geriet ins Stolpern. Mit einem dumpfen Treffer auf den Hinterkopf setzte Askan ihn außer Gefecht. Der andere fluchte und richtete sein Messer auf Kadir, der sich auf seine wackeligen Beine stemmte. Er hielt sich stöhnend die Schulter, Blut quoll zwischen dessen Fingern hindurch. Trotzdem schob er sich schützend vor die junge Frau.

Plötzlich glommen seine Augen auf wie Glut, der vom Wind neues Leben eingehaucht wurde. Die Luft um ihn herum flimmerte. Er versteifte sich am ganzen Leib, riss den Kopf in den Nacken und breitete die Arme aus. Aus seinen Händen loderten orangerote Flammen auf. Askan erstarrte und beobachtete gebannt den Körper des jungen Mannes. Das Feuer rann über dessen Arme, ohne ihn zu verbrennen. Es umschloss ihn wie Schlangenzungen, die gierig in die Luft leckten. Unschlüssig peitschen sie um sich und formten vor ihm allmählich die Gestalt eines mächtigen Feuervogels – eines Phönixes. Dieser breitete die flammenden Flügel aus, gab einen glockenhellen, sphärischen Schrei von sich und rauschte direkt auf den Angreifer vor ihm zu. Askan blieb der Schrei in der Kehle stecken und das Schwert entglitt seinem schwitzigen Griff. Im letzten Moment hechtete er zu Boden, den Mantel riss er schützend über sich. Die Phönixschwingen formten einen Feuersturm und fegten über ihn hinweg, der Kerl schrie neben ihm in Todesqualen, bis er zu Asche verglüht war.

Askan brüllte, alles leuchtete in vernichtendem Gelb und Orange, schlug ihm mit sengender Hitze entgegen. „Hör schon auf!“ Er sandte ein Stoßgebet zum Götterquartett und zur Dämmerwölfin.

„Kadir, nicht! Du tötest uns alle!“, schrie die junge Frau.

Als nach drei, vier Herzschlägen Askans Leib noch immer nicht brannte, sah er sich um. Der Phönix tobte mordlüstern um sich – ohne Askan ein Härchen zu versengen. Kadir stand mit seitlich ausgebreiteten Armen da und wankte, als würde er die Kontrolle über die Kreatur verlieren.

Askan erhob sich und starrte in die glühenden Augen des Elementaristen. „Ruf dein Biest zurück, bevor die ganze Stadt auf uns aufmerksam wird!“, sagte er mit bebender Stimme und hob die Hände. „Ich tue dir nichts.“

Kadir schwankte und Blut tränkte sein Leinenhemd. Feuchte Bahnen glänzten im Feuerschein auf seinen Wangen, Schatten der Phönixschwingen tanzten wild über sein Antlitz, furchterregend und zugleich atemberaubend schön. Vernichtende Verzweiflung schrie aus dem Blick des Elementaristen.

„Wie ist das möglich? Du müsstest tot sein“, hauchte er, so leise, dass Askan ihn kaum verstand. „Wer bist du?“ Kadir sackte auf die Knie und das Spektakel endete jäh. Finsternis breitete sich aus und es dauerte einen Moment, bis Askans Sicht sich schärfte und er seine Umgebung wieder wahrnahm. Die Flammen waren fort, ein beißender Brandgeruch schwängerte die Luft, doch verwunderlich genug hatte keines der Holzgebäude Feuer gefangen.

Askans Knie zitterten. Wie zum Henker war er dem Hitzetod entgangen? Er schüttelte die lähmende Leere aus seinem Kopf und starrte Kadir und die junge Frau an.

Im Mondschein glänzte ihr auffällig langes, schwarzes Haar. Ihr jugendliches Gesicht war viele Nuancen dunkler als Kadirs Teint. Mit Sorge in der Stimme redete sie wieder auf ihrer Muttersprache. Kadir nickte, erhob sich und schob sie schützend hinter sich. Mit dem Ausdruck eines in die Ecke gedrängten Raubtieres taxierte er Askan; das Glühen in Kadirs Augen war verloschen.

Für einen kurzen Moment starrten sie einander an, bis Askan sein Schwert wegsteckte und beschwichtigend die Hände hob. „Bitte, kein Feuer mehr. Ich tue euch nichts. Was im Namen der Götter treibt ihr zwei hier draußen? Mitten in der Nacht vor Eurer Hochzeit, Pharaonentochter – die seid Ihr doch, oder, Kleora?“


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