Mittwoch, 26. April 2023

[Schnipseltime] Der 6.Kreis von Robert Deiss

 

  

Als die Sonne sich hinter den Wipfeln der Bäume absenkte, verließen sie Aleshanees Haus, um zum Fest der Freunde zu gehen. Schon von Weitem hörten sie Trommeln, Rasseln und Gesänge. Auf dem Marktplatz angekommen, bot sich ihnen ein Schauspiel ohnegleichen.

Die Feenlichter glitzerten wie bunte Sterne am Himmel. In der Mitte brannten die großen Lagerfeuer in den Farben des Regenbogens. Über die beiden mannshohen Kupferkessel gebeugt, an denen die Flammen hochtänzelten, standen die alten Frauen auf ihren Tritten, um mit erstaunlicher Kraft die vor sich hin köchelnden Suppen zu rühren. Der würzige Geruch der Suppen, mit dem süßlichen Rauch des Feuers vermischt, entfachten in Quinn eine Welle an Glücksgefühlen.

Männer mit hölzernen Masken und Rasseln, aus denen grüner Dampf quoll, tanzten um das Feuer. Anders als Taytas Maske wirkten die ihren freundlich und lustig. Sie sangen in der Sprache, die Quinn so fremd und doch mittlerweile so vertraut zugleich war, in der Sprache ihres Volkes. Die anderen Nahimani saßen in Kreisen um sie herum und wiegten sich im „Rausch – die Hände gen Himmel gestreckt, den Kopf zurückgelegt und die Augen geschlossen. Der Thron war noch unbesetzt.

Einige Frauen hatten sich erhoben, um die hölzernen Suppenschalen und das frischgebackene Brot, das herrlich nach Kräutern und Hefe duftete, von den Köchinnen entgegenzunehmen und zu verteilen. Erst jetzt bemerkte Quinn, wie hungrig er war. Ein tiefes Gurgeln aus Makis Richtung, die sich ungeduldig den Bauch rieb, sagte ihm, dass er nicht der Einzige war.

»Na los, kommt schon! Ihr müsst unbedingt die Suppe und das Brot probieren. Danach wollt ihr nichts anderes mehr essen«, rief Aiana über den Lärm der Trommeln hinweg und ging ihnen voraus.

Nachdem sie gefüllte Schalen und Brot entgegengenommen hatten – Maki hatte sich gleich zwei Schüsseln geben lassen und musste ihre beiden Brote nun auf dem Kopf tragen –, suchten sie sich Plätze nahe den Feuerstellen.

Aiana hielt Maki davon ab, direkt über ihr Essen herzufallen, und versuchte ihr zu erklären, dass sie sich alle noch ein wenig gedulden mussten. Empört wollte Maki gerade erwidern, dass man ein solches Essen doch nicht warten lassen konnte, als ein lauter Paukenschlag und der Schrei eines weißen Nashorns ertönte. Die Nahimani erhoben sich und hielten ihre Schüsseln über ihre Köpfe Maki hätte nicht verstörter schauen können, hätte sie einen Glühkäfer grunzen gehört.

»Der Häuptling kommt«, flüsterte Aiana ihnen zu.

Eine Frau mit grünem Federschmuck in den kurzen schwarzen Haaren betrat den Platz. In ihr Gesicht, von der Zeit der Jahre gealtert, waren grüne Runen tätowiert und ihre Hände leuchteten wie die Sonne. Hinter ihr ging ein buckliger Mann in roter Robe, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Die Fingernägel seiner gefalteten Hände waren schwarz.

»Das ist ihr oberster Berater, von dem ich dir erzählt habe«, raunte Aiana Quinn zu. Aleshanee, die sich mittlerweile zu ihnen gesellt hatte, gab ihr ein Zeichen, ruhig zu sein.

Als der Häuptling den Thron erreicht hatte, hielt sie die Hände über die Menge und sprach beschwörend auf sie ein. Das Licht ihrer Hände wurde immer heller, bis der Wald von einem tiefen Summen erfüllt war und glitzernde Tropfen vom Himmel auf sie hinab in die Suppe regneten. Quinn versuchte, seine Suppe abzuschirmen, doch Aleshanee hielt ihn zurück.

»Das Tränen von Feen! Sie Volk segnen bei Fest. So wir sicher und bewahrt.«

Der Häuptling ließ die Arme sinken und erhob die Stimme zum Volk. Jubelschreie brandeten zur Antwort über die Menge hinweg. Wie auf ein geheimes Zeichen hin, setzten sich die Nahimani und schlürften ihre Suppen um die Wette.

Als Quinn kostete, hatte er das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Noch nie hatte er etwas so Vorzügliches gegessen. Jedem Schluck folgte eine Symphonie der Genüsse – Weißer Kürbis, Honigkartoffeln und Waldkarotten, Knoblauch, Gelbbasilikum und Drachenchili. Mit jedem Mal entfaltete sich ein neuer Geschmack einer weiteren Zutat auf seiner Zunge, der einen wohligen Schauer durch seinen Körper jagte. Während er immer noch versuchte, das kulinarische Rätsel seiner ersten Suppe zu lösen, kam Maki bereits mit ihrem dritten Nachschlag zurück. Das Gesicht von oben bis unten voll mit Suppe, strahlte ihn die Trollfrau zufrieden an.

»If frauche unfedingt fas Refepf!«, schmatzte sie an Aiana gewandt.

»Das weiß niemand. Solange die Kochfrauen noch leben, sind sie die Einzigen, die es kennen. Die Zubereitung der Suppe ist ein gut gehütetes Geheimnis, das von Kochfrau zu Kochfrau weitergegeben wird. Tut mir leid, kleine Freundin, aber da muss ich dich wohl enttäuschen. Ich wüsste es auch nur zu gern«, erklärte Aiana lachend.

Die halbleere Schüssel in den Pfoten, erhob Maki sich mit bangem Gesichtsausdruck und rannte Richtung Suppenausgabe, als würde sie um ihr Leben rennen.

Als alle Anwesenden gesättigt waren und selbst Maki keine weitere Schüssel mehr wollte – sie hatte vermutlich einen der beiden Kessel allein geleert –, wurden die Überreste des Essens weggebracht. Zwei Männer mit bunten Masken und kleinen Holztiegeln traten hervor. Sie gingen singend von Person zu Person und malten jedem mit grüner Paste Symbole ins Gesicht, die bei Berührung der Haut zu glühen begannen.

Ein Meer aus Runen und Linien erleuchtete die Dunkelheit des nächtlichen Waldes. Mit Auftragen der Farbe hörte Quinn schlagartig jedes Geräusch ganz klar, sah es bildlich vor seinem inneren Auge. Er hatte das Gefühl, aus dem Körper gestiegen zu sein und über dem Festplatz zu schweben. Die beiden Männer mit den Masken ergriffen im Wechsel das Wort. Quinn riss erstaunt die Augen auf. Er konnte jedes ihrer Worte verstehen.

»Noch vor den Sommern unserer Urahnen lebten die ersten unseres Stammes friedlich im Wald der Träume ...« Der Festplatz verschwamm vor Quinns Augen. An seiner Statt öffnete sich ihm die Welt der Erzählung, der er lauschte.

»... Sie lebten friedlich an der Seite der Tiere. Die Magierinnen erkundeten die Geheimnisse des Waldes, die Jägerinnen empfingen, was die Götter für sie bestimmt hatten, die Krieger erprobten ihre Körper und die Kinder spielten ihre Spiele.

Doch eines Tages kamen Männer in unsere Mitte – Männer mit hellen Gesichtern. Wir begegneten ihnen mit Ehre und Respekt. Wir hießen sie mit dem Fest der Freunde willkommen, wie unser Brauch es gebührt.

Wir lernten von ihnen, sie lernten von uns. Über die ewigen Wechsel von Sommer und Winter vertrauten wir ihnen unsere Kinder an und sie uns die ihren, um ein Band der Freundschaft zu knüpfen, das selbst die Götter nicht trennen sollten. Das Gleichgewicht der Stämme, dem das Gleichgewicht alles Lebenden innewohnt, nährte den Wald der Träume und vertrieb alles Böse.

Doch eines Tages legte sich ein Schatten auf den Wald der Träume. Männer in Gewändern, dunkel wie die Nacht, kamen und beschmutzten unsere Bräuche. Sie wollten kein Fest der Freunde. Stattdessen nahmen sie unsere Frauen und Kinder ...« Wie aus weiter Ferne hörte Quinn die schmerzerfüllten Schreie und das Gemurmel der Zuhörer.

»Sie zerstörten das heilige Gleichgewicht und ließen unseren Wald erkranken. Die Dunkelheit kam, machte aus Gutem Böses und verschlang das Licht auf ewig.

Bald wird der Tag kommen, an dem die Feen uns verlassen müssen, an dem sie sich andere heilige Orte suchen werden und der Wald der Träume den Schrecken der Dunkelheit unterliegen wird. Nur das Gleichgewicht kann den Schatten Einhalt gebieten.

Doch verzaget nicht, oh Nahimani! Die Hoffnung ist nach zahllosen Sommern wieder zu uns zurückgekehrt. Eine weiße Magierin wurde gesandt, um uns zu helfen. Mit vereinten Kräften werden wir die Dunkelheit besiegen oder für ewig von ihr verschluckt werden. Feiert die Götter und betet, dass sie uns wohlgesonnen sind!«

In seiner Erleichterung wie zu einem einzigen Lebewesen vereint, schrie das Volk des Waldes auf. Benebelt von der Magie der Hoffnung tanzten sie so ausgelassen um die Feuer, dass der grüne Schein der Tänzer und die Regenbogentöne des Feuers zu einem Meer aus Farben verschwammen. Hier, an diesem Ort der Zuversicht, wollte Quinn für immer bleiben, um mit den Nahimani zu leben, zu feiern und mit ihnen auf die Rettung durch die große weiße Magierin zu warten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Mit dem Abschicken des Kommentars bin ich mit den Datenschutzrichtlinien des Blogs einverstanden.