Celeste – Band 2 -
Das Manuskript der Amazone
* * *
Kapitel I
I |
ch fühle mich leicht wie eine Feder. Die Sonne scheint
auf mich herab. Ein leichter Windstoß erhebt mich in die Lüfte und ich breite
meine Arme aus, als wäre ich eine Gabelweihe*, und fliege wie ein Engel!] Doch
plötzlich verblendet mich grelles Licht. Mein Versuch, die Augen zu öffnen,
scheitert schmerzhaft an meinen zusammengeklebten Wimpern – es ist eine
unangenehme Empfindung. Als die Anstrengung zu mühsam wird, gebe ich auf und
atme tief und zufrieden durch, beruhigt vom orangefarbenen Leuchten hinter
meinen geschlossenen Augenlidern. Ich höre eine Frauenstimme, aber ich kann
ihre Worte nicht verstehen. Ich möchte mich auf die Seite drehen; doch ein
stechender Schmerz im Bauch hält mich davon ab. Wo bin ich?
Mein Kopf wird schwer und ich schlafe ein.
Ich vernehme ein leichtes Summen und benötige eine Weile um mir darüber klar zu
werden, dass es von mir selbst stammt – ich habe geschnarcht! Allem Anschein
nach döse ich nur vor mich hin, denn die Stimmen sind wieder da, es sei denn,
ich befände mich erneut in einem Traum? Ich fühle mich, als läge ich auf einer
Wolke. In der Ferne schimmert ein Lichtstrahl, auf den ich mich durch eine Art
Gang zubewege, ohne meine Schritte oder meinen Körper zu spüren. Ich muss
träumen! Schwerelos schwebe ich über einem Baumwollfeld. Bin ich tot?
Nein! Ich atme. Und ich fühle, wie sich
eine Hand auf meine legt, sobald die Stimme wieder zu mir durchdringt:
„Sie muss noch schlafen. Es ist ein
Wunder, dass sie noch am Leben ist.“
Eine andere Stimme, vielleicht die einer
Großmutter, antwortet:
„Es ist auch ein Wunder, dass wir beide
noch am Leben sind, mein Kind. Lass uns darauf hoffen, dass ihr Ehemann die
Massaker und die Brandstifter überlebt hat.“ Ich höre das Getrappel von
Hufeisen auf den Steinplatten. Eine Vision bildet sich vor meinen geschlossenen
Lidern: mein schöner Achilles, auf dessen Rücken mir Aminte im Damensattel
stolz zulächelt! Ich höre mich seufzen, während das Bild sich verwässert.
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[Gabelweihe* Der
Rotmilan, auch Roter Milan, Gabelweihe oder Königsweihe genannt, ist eine etwa
mäusebussardgroße Greifvogelart aus der
Familieder Habichte
Eine Tür schlägt zu, dann hämmern erneut
eherne Schritte durch den Raum. Plötzlich fällt mir ein, dass die Bauern der
Vendee ihre Holzschuhe mit Eisen beschlagen, um deren Lebensdauer zu
verlängern.
Ein wenig später - ich musste inzwischen
eingeschlafen sein – nehme ich einen vertrauten Geruch wahr, der meinen Magen
in regelrechte Rebellion versetzt: der Dunst gebratener Zwiebeln. Eine gute
Seele fährt mit einem warmen, feuchten Tuch über mein Gesicht. Sie reibt sanft
über meine Stirn, angenehmer Duft nach Rosmarin umgibt mich. Der Dampf löst
meine verklebten Augen und als ich sie öffne, erschrickt meine Pflegerin. Sie
sieht mich neugierig an und ich höre erneut die flötende Stimme:
„Ah, endlich! Sie haben genug geschlafen,
denke ich. Fühlen Sie sich etwas wohler?“
Ich öffne meinen Mund, doch es kommt kein
Ton aus meiner Kehle; meine Stimme ist so heiser, dass ich nur krächzen kann:
„Besser... ja, danke. Aber wo bin ich?“
Die junge Frau lächelt:
„In Saint-Jean-de-Linières.* Sie lagen
mitten auf dem Weg, eine halbe Meile von Angers entfernt. Unser braver Esel war
vor Ihnen stehengeblieben und das zu Ihrem Glück, denn weder meine Mutter noch
ich selbst konnten Sie im grellen Gegenlicht der Sonne sehen. Wir kamen vom
Markt aus Angers zurück.“
Angers. Das Wort brummt durch meinen Kopf
wie ein Bienenschwarm, bis mich die Realität mit der Intensität einer Flutwelle
überkommt. Vor meinem geistigen Auge erscheinen die Schlachtfelder um Cholet,
die Kadaver, die armen, alten Männer am Wegesrand..., meine leblose Tochter in
meinen Armen. Dann blitzt eine Klinge im strahlend blauen Himmel auf, spiegelt
sich im Sonnenschein, ich sehe die smaragdgrünen Augen meines lieben Gemahls,
mein William! Ohne, dass ich es kontrollieren könnte, fühle ich heiße Tränen an
meinen Wangen hinablaufen. Doch im selben Moment, abrupt und brennend wie ein
Blitz, durchdringt ein noch schrecklicherer Gedanke meinen geschwächten Geist,
und noch bevor ich die Frage formulieren kann, die so schwer auf meinem Herzen
lastet, fürchte ich die Antwort:
„Und das Kind?“
„Es hat nicht leiden müssen, der Bub ist
tot geboren. Es tut mir leid, werte Dame.
*
* *
(Ende Auszug)
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