Freitag, 3. März 2023

[Schnipseltime] Celeste - Band 2 - Das Manuskript der Amazone von Sabrina Kiefner

 

Celeste – Band 2 - Das Manuskript der Amazone

 

 

 

 

 

 

*   *   *

Kapitel I

Mehr Licht

 

 

I

ch fühle mich leicht wie eine Feder. Die Sonne scheint auf mich herab. Ein leichter Windstoß erhebt mich in die Lüfte und ich breite meine Arme aus, als wäre ich eine Gabelweihe*, und fliege wie ein Engel!] Doch plötzlich verblendet mich grelles Licht. Mein Versuch, die Augen zu öffnen, scheitert schmerzhaft an meinen zusammengeklebten Wimpern – es ist eine unangenehme Empfindung. Als die Anstrengung zu mühsam wird, gebe ich auf und atme tief und zufrieden durch, beruhigt vom orangefarbenen Leuchten hinter meinen geschlossenen Augenlidern. Ich höre eine Frauenstimme, aber ich kann ihre Worte nicht verstehen. Ich möchte mich auf die Seite drehen; doch ein stechender Schmerz im Bauch hält mich davon ab. Wo bin ich?

 

Mein Kopf wird schwer und ich schlafe ein. Ich vernehme ein leichtes Summen und benötige eine Weile um mir darüber klar zu werden, dass es von mir selbst stammt – ich habe geschnarcht! Allem Anschein nach döse ich nur vor mich hin, denn die Stimmen sind wieder da, es sei denn, ich befände mich erneut in einem Traum? Ich fühle mich, als läge ich auf einer Wolke. In der Ferne schimmert ein Lichtstrahl, auf den ich mich durch eine Art Gang zubewege, ohne meine Schritte oder meinen Körper zu spüren. Ich muss träumen! Schwerelos schwebe ich über einem Baumwollfeld. Bin ich tot?

 

Nein! Ich atme. Und ich fühle, wie sich eine Hand auf meine legt, sobald die Stimme wieder zu mir durchdringt:

„Sie muss noch schlafen. Es ist ein Wunder, dass sie noch am Leben ist.“

 Eine andere Stimme, vielleicht die einer Großmutter, antwortet:

„Es ist auch ein Wunder, dass wir beide noch am Leben sind, mein Kind. Lass uns darauf hoffen, dass ihr Ehemann die Massaker und die Brandstifter überlebt hat.“ Ich höre das Getrappel von Hufeisen auf den Steinplatten. Eine Vision bildet sich vor meinen geschlossenen Lidern: mein schöner Achilles, auf dessen Rücken mir Aminte im Damensattel stolz zulächelt! Ich höre mich seufzen, während das Bild sich verwässert.

 

[Gabelweihe* Der Rotmilan, auch Roter Milan, Gabelweihe oder Königsweihe genannt, ist eine etwa mäusebussardgroße Greifvogelart aus der  Familieder Habichte

 

Eine Tür schlägt zu, dann hämmern erneut eherne Schritte durch den Raum. Plötzlich fällt mir ein, dass die Bauern der Vendee ihre Holzschuhe mit Eisen beschlagen, um deren Lebensdauer zu verlängern.

 

Ein wenig später - ich musste inzwischen eingeschlafen sein – nehme ich einen vertrauten Geruch wahr, der meinen Magen in regelrechte Rebellion versetzt: der Dunst gebratener Zwiebeln. Eine gute Seele fährt mit einem warmen, feuchten Tuch über mein Gesicht. Sie reibt sanft über meine Stirn, angenehmer Duft nach Rosmarin umgibt mich. Der Dampf löst meine verklebten Augen und als ich sie öffne, erschrickt meine Pflegerin. Sie sieht mich neugierig an und ich höre erneut die flötende Stimme:

„Ah, endlich! Sie haben genug geschlafen, denke ich. Fühlen Sie sich etwas wohler?“

Ich öffne meinen Mund, doch es kommt kein Ton aus meiner Kehle; meine Stimme ist so heiser, dass ich nur krächzen kann: „Besser... ja, danke. Aber wo bin ich?“

Die junge Frau lächelt:

„In Saint-Jean-de-Linières.* Sie lagen mitten auf dem Weg, eine halbe Meile von Angers entfernt. Unser braver Esel war vor Ihnen stehengeblieben und das zu Ihrem Glück, denn weder meine Mutter noch ich selbst konnten Sie im grellen Gegenlicht der Sonne sehen. Wir kamen vom Markt aus Angers zurück.“

 

Angers. Das Wort brummt durch meinen Kopf wie ein Bienenschwarm, bis mich die Realität mit der Intensität einer Flutwelle überkommt. Vor meinem geistigen Auge erscheinen die Schlachtfelder um Cholet, die Kadaver, die armen, alten Männer am Wegesrand..., meine leblose Tochter in meinen Armen. Dann blitzt eine Klinge im strahlend blauen Himmel auf, spiegelt sich im Sonnenschein, ich sehe die smaragdgrünen Augen meines lieben Gemahls, mein William! Ohne, dass ich es kontrollieren könnte, fühle ich heiße Tränen an meinen Wangen hinablaufen. Doch im selben Moment, abrupt und brennend wie ein Blitz, durchdringt ein noch schrecklicherer Gedanke meinen geschwächten Geist, und noch bevor ich die Frage formulieren kann, die so schwer auf meinem Herzen lastet, fürchte ich die Antwort:

„Und das Kind?“

„Es hat nicht leiden müssen, der Bub ist tot geboren. Es tut mir leid, werte Dame.

 

*   *   *

 

(Ende Auszug)


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