Die Flucht
Als Jill das Ziel der Reise erfuhr, Santa Fe, wusste sie endlich, was
sie erwartete. In Santa Fe war Lionel. Er war immer noch wütend auf sie, davon
konnte sie ausgehen. Cole und vor allem Roy wollten sie loshaben, was war
einfacher, als sie Lionel zu überlassen? Vielleicht sogar zusätzlich für sie zu
kassieren? Lionel würde sie entweder totschlagen oder zur Hure machen, beides
kam für Jill nicht in Frage.
Sie saß im Zug und brütete über ihren Plänen. New Mexico kam immer
näher, es wurde Zeit zu handeln. Und wieder eilte ihr der Zufall zu Hilfe. Sie
hatte vorgegeben, noch sehr schwach zu sein, es stimmte nicht, sie war
kräftiger und fühlte sich viel besser, als sie es den Männern zeigte. Vor ihnen
schlief sie meist oder ließ sich beim Gehen stützen, behauptete, ihr sei
schwindlig.
Sie lag mit dem Kopf auf Coles Jacke, als sie in einer Bahnstation
erwachte. Die Männer waren ausgestiegen, um sich die Beine zu vertreten und zu
rauchen. Jill tastete in die Jacke und fand Coles Geld. Wenn sie dieses Mal die
Flucht wagte, würde sie besser vorbereitet sein. Sie versteckte alles Geld in
ihrem Mieder. Nun musste sie schnell handeln, Cole würde den Diebstahl bald
bemerken. Er hatte die Jacke nur nicht mitgenommen, weil er davon ausgegangen war,
dass Jill alles bewachen würde.
Sie fuhren weiter und es ging auf Abend zu, die Sonne stand knapp über
den Bergen.
„Darf ich nach hinten gehen und den Sonnenuntergang anschauen?“, fragte
Jill. „Mir ist ein wenig übel, ich hätte gern frische Luft!“
„Ich gehe mit!“, bestimmte Cole und zusammen kämpften sie sich zwischen
all den Sitzen in das letzte Abteil und öffneten die Tür zur Plattform. Dort
rauchte Cole und Jill hockte am Boden und starrte auf die Berge.
Cole warf seine Zigarette schließlich über das Geländer.
„Komm mit rein!“
„Darf ich noch ein wenig hierbleiben? Bis die Sonne ganz weg ist, ich
würde das gern sehen, bitte, es kann nicht mehr lange dauern!“
Cole warf ihr einen Blick zu. Blass und zusammengekauert saß sie da, die
Arme um die Beine geschlungen. Ihr Kopf lehnte haltsuchend am hölzernen Waggon.
Mit ihr war nicht mehr viel los. Sie konnten von Glück reden, wenn Lionel
überhaupt bereit war, etwas für sie zu bezahlen. So oder so, sie würden Jill
demnächst loswerden, sie war zur Last geworden. Sie schien kaum mehr fähig, auf
eigenen Beinen zu stehen.
„Du kommst mit rein“, befahl er und riss sie hoch. Jill tat so, als
würde sie zusammenbrechen und machte würgende Geräusche. Er ließ sie sofort los
und sie beugte sich über das hintere Geländer, gab vor, sie müsse sich
übergeben.
Das wollte er nicht mit ansehen. „Komm, sobald du damit fertig bist!“,
fuhr er sie an und machte sich allein auf den Weg zurück.
Einmal drehte er sich um und sah sie durch die geöffnete Tür. Sie
klammerte sich immer noch am Geländer fest. Dann war er im nächsten Abteil
angelangt.
Jill wusste das nicht. Sie wusste nicht, ob er sie beobachtete, sie
wusste nur, sie wartete auf eine Gelegenheit, abzuspringen, ohne sich vorher zu
verraten. Ohne Tasche, ohne alles, nur mit Coles Geld. Diesmal musste es
gelingen, es würde keine Ausrede mehr geben.
Doch der Zug fuhr schnell, viel zu schnell. Die Sonne war nun
verschwunden, länger konnte sie bestimmt nicht bleiben, die Gelegenheit schien
vorüber, Jill wandte sich um, um wieder hineinzugehen, es half alles nichts.
Da erklomm der Zug eine Anhöhe und wurde langsamer. Je steiler es wurde,
desto mehr schnaufte die Dampflok und die Geschwindigkeit verringerte sich.
Jill trat auf das Trittbrett und hängte sich an das Geländer. Nun war der
Gipfel fast erreicht. Langsamer wurde es nicht.
Wieder sprang sie und sie hatte erneut Glück, sie rollte sich ab und
blieb trotz des steinigen Bodens unverletzt. Die Lok nahm Geschwindigkeit auf
und der Zug entfernte sich schnell.
Jill lief los Richtung Westen, Richtung Berge.
Sie bekam nicht mehr mit, dass der Zug angehalten wurde, denn man hatte
ihren Absprung bemerkt und wohlmeinende Passagiere dachten, sie sei
hinuntergefallen. Daher wurde der Schaffner alarmiert und Cole erkannte sehr
schnell, dass es Jill gewesen war, die diesen Aufruhr verursacht hatte. Er
wurde rot vor Zorn und entdeckte, dass Jill sein Geld gestohlen hatte.
Sein Fluchen konnte man im gesamten Zug hören, er rannte mit Roy aus dem
Waggon, verlangte, dass ihre Pferde abgeladen wurden, das dauerte und dauerte
und inzwischen war die Nacht hereingebrochen.
Roy dagegen blieb ruhiger, er überzeugte Cole, dass sie nichts
ausrichten konnten im Moment, sie würden Jills Spur aufnehmen, sobald sie in
Santa Fe angekommen waren. Sie würde nicht davonkommen, niemals, sie würden sie
kriegen. Schließlich setzte der Zug seinen Weg fort, es war nicht mehr lange
bis zu ihrem Ziel und sie wussten, Lionel würde ihnen helfen, er hatte seine
eigene Rechnung mit Jill offen.
Währenddessen durchquerte Jill eine Wiese und erreichte einen Wald. Sie
rannte so schnell wie noch nie in ihrem Leben, feuerte sich an, ignorierte alle
Schmerzen, weg, nur weg, so weit wie möglich. Noch ein Schritt, noch ein
Schritt, es war dunkel geworden, aber der Mond erhellte die Gegend genug, um
etwas zu erkennen, der Wald stand nicht so dicht, wie sie es im Osten gewohnt
war. Ab und zu blieb sie stehen, versuchte, ihren Atem zu beruhigen, und
lauschte auf etwaige Verfolger. Sie war bereit, einen Baum zu erklettern, sich
irgendwo unsichtbar zu machen, doch sie hörte nichts. Dennoch war sie noch
lange nicht in Sicherheit.
An einem Bach machte sie eine erste richtige Pause, kühlte ihre
schmerzenden Füße und trank gierig das klare Wasser, dann stieg sie hinein,
musste schwimmen und erreichte tropfnass das andere Ufer.
Sie lief weiter, unbeirrt, sie hatte nun bestimmt schon mehrere Meilen
zurückgelegt. Schließlich konnte sie nicht mehr. Sie suchte Schutz unter einem
Baum, rollte sich zusammen und schlief erschöpft ein.
Als sie erwachte, war es taghell. Alles schien friedlich. Jill versuchte
ein paar Schritte, ihre Füße schmerzten, sie hatte bestimmt riesige Blasen
gelaufen, doch es nützte nichts. Sie setzte ihren Weg nach Westen fort, die
Berge kamen näher, bald war sie in Sicherheit. Wenn sie es über die restliche
Ebene geschafft hatte, gab es so viel Verstecke, niemand würde sie finden. Sie
verließ den Wald gegen Nachmittag und kam an eine ausgefahrene Straße.
Vorsichtig blickte sie sich um, kein Mensch war zu sehen. Daher rannte sie
wieder, so schnell sie konnte, und suchte Deckung in einem Wäldchen. Nun ging
es steil bergauf. Allmählich verspürte sie gewaltigen Hunger, es war über einen
Tag her, dass sie etwas gegessen hatte. Man konnte über Cole und Roy sagen, was
man wollte, Jill war immer gut versorgt worden. Doch zu welchem Preis …
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