Mittwoch, 16. Juli 2025

[Schnipseltime] Talisman der Diebe von Chris Norwyn


 

Auszug aus Kapitel 2

Der Tempel war am Vormittag nur spärlich besucht. Abgesehen von ein paar Tempeldienerinnen hielt sich niemand in den heiligen Hallen der Inanna auf. Bei den Dienerinnen handelte es sich zumeist um junge Frauen edlen Geblüts. Auf diese Weise blieben Politik und Glaube stets eng miteinander verwoben. Vielfach gelang ihnen das mehr schlecht als recht, fand Kura. Macht verleitete zum Missbrauch. In Zeiten der Unbeständigkeit könnte das Land einen neuen starken Herrscher gebrauchen, wie jene, die vor der Sintflut regiert hatten. Eben einen Mann, der in der Lage wäre, das Reich zu einen. Im Moment breitete sich über den Ländereien am Buranun und Idigna jedoch ein Fleckenteppich kleiner Stadtstaaten aus, die um eine Vormachtstellung konkurrierten, worunter die einfache Bevölkerung zu leiden hatte.

In Gedanken daran versunken, wanderte Kura durch die schmalen Straßen der Stadt zum großen Tempel, dessen Vorplatz von Palmen und Zierpflanzen gesäumt wurde. Von der Hauptstraße aus verlief ein grüner Teppich bis zum Haupttor. Über dem Tor waren ein zusammengebundenes Schilfrohrbündel und zwei achtzackige Sterne in den Stein gehauen. Zu beiden Seiten flankierten Löwenstatuen den Zugang zur Eingangshalle. Trotz der friedlichen Atmosphäre, die den rechteckigen Gebäudekomplex umgab, erschien es Kura als ungeschickt, ausgerechnet durch die Vordertür einzutreten. Die Seitentore auf der westlichen Längsseite des heiligen Hauses lagen im Schatten angrenzender Wohnhäuser. Diese wurden zum Teil von Tempeldienern und Priestern bewohnt. In manchen lebten auch reiche Händler, was an den prunkvoll bemalten Häuserfassaden erkennbar war, die zum Teil Einflüsse anderer Kulturen aufwiesen.

Der Dieb bog in die schmale Seitenstraße ab. Gemäß den sumerischen Baukonventionen führten die Seitentore ebenfalls zu einem Vorraum mit drei Durchgängen, von denen zwei an ein Netz von Räumen anschlossen, die den Kern des Tempels wie einen Rahmen umspannten.

Bei großen Tempelkomplexen bestand der Kern aus drei Räumen: einem rechteckigen Hauptraum, der für offizielle Zeremonien genutzt wurde, einem Durchgangsraum und dem Herzstück des Tempels, der Zella, die für kleinere und private Riten genutzt wurde, sowie einer Privathalle.

In der Zella wurde das Heiligtum aufbewahrt, eine kunstvoll gefertigte Statue der Inanna, die von den Priestern geweiht und mit den ihr zugesprochenen Attributen ausgestattet war, einer Hörnerkrone und einem Ährenbündel. Um ihren Hals hing eine Kette mit einem achtzackigen Sternemblem. In ihren Händen hielt sie Schwerter. Ihr mehrstufiger Faltenrock hing hinab bis zum Boden. Nur zu festlichen Anlässen wurde sie ausgeführt und war außerhalb des Tempels zu sehen.

Sie zu stehlen stand außer Frage. Zum Einen aufgrund seines Respekts gegenüber dem Handwerker, der dieses Kunstwerk geschaffen hatte, zum Anderen auch wegen der Legenden, von welchen ihm Isharra berichtet hatte. Es hieß, die einen Fuß große Statue sei das Abbild der Göttin Inanna selbst und im Zuge des sogenannten Mundwaschungsrituals entsprechend mit einer Seele ausgestattet worden. Bei dem Mundwaschungsritual handelte es sich um eine besondere Zeremonie, die mehrere Tage andauerte und der Weihe der Statue diente. Sollte zwischen dem Drehen des Feueropals und dem Sandsturm in Akkad ein Zusammenhang bestehen, könnte auch diese Geschichte ein Fünkchen Wahrheit enthalten. Daher riskierte er besser nicht, den Zorn der Statue auf sich zu ziehen.

Auf seinem Weg durch die Haupthalle und den Durchgangsraum, der zur Zella und der Privathalle führte, begegnete er niemandem. Die Wachen hielten sich am Haupteingang auf, und die Haupthalle wurde um diese Tageszeit für keinerlei Riten genutzt. Erst in der Privathalle gewahrte er eine Dienerin, die an einem Altar ihre Gebete verrichtete.

Der schlichte Altar stand in der rechten Hälfte des Raums, flankiert von zwei kleineren Löwenstatuetten. Dahinter war eine Tür zu erkennen, die zu einem anderen Raum führte. Kura wartete am Eingang zur Privathalle, bis sie ihren Lobpreis gesungen und die Weihformeln gesprochen hatte, bevor er sacht an den Türrahmen klopfte.

Das Mädchen zuckte regelrecht zusammen und sprang erschrocken auf, als sie ihn sah. Sie war höchstens vierzehn, ihrer Gestalt nach zu urteilen, und trug ein sogenanntes Wickelkleid. Dieses bestand aus einem langen, rechteckigen Tuch, das sie sich um den Körper gebunden hatte. Um ihre Taille herum war der Stoff fester gezogen. Die rechte Schulter blieb frei. Ihr Haar trug sie offen, doch wurde es durch ihren Kopfschmuck, einer goldenen Kette mit weißen Perlen, davon abgehalten in ihr Gesicht zu fallen. »Wer seid Ihr? Was sucht Ihr hier?« Ihre Stimme verriet Argwohn und ihre gesamte Haltung wirkte angespannt.

Wenn er nicht aufpasste, lief sie davon und rief nach den Tempelwachen. »Ich bin ein Bote der Enitum aus Akkad. Sie erhielt eine Nachricht vom Tempel. Ich bin die Unterstützung, um die Ihr angesucht habt.«

Ihm war bewusst, dass er nicht mit der Tür ins Haus fallen durfte und die kleine Lüge bot sich gut an. Auf diese Weise könnte er ihr Vertrauen gewinnen. Für eine kleine Dienstleistung, wären sie vielleicht eher bereit, seine Adoptivmutter gemäß den traditionellen Riten in ihrer Heimatstadt zu bestatten.

Das Mädchen runzelte die Stirn. »In welcher Angelegenheit sollte der Tempel Hilfe benötigen?«

»Fragt die En Priesterin, wenn Ihr mir nicht glaubt«, antwortete der Dieb keck.

»Bleibt wo Ihr seid. Ich werde nach ihr schicken lassen. Wenn Ihr ein Ehrenmann seid, wird sie es erkennen und mit Euch sprechen.« Mit diesen Worten verschwand sie durch eine der westlich befindlichen Seitentüren.

Neugierig trat Kura in den Raum hinein und sah sich um. Es gab sogar drei Türen, wovon eine in den Durchgangsraum führte, aus dem er gekommen war.

Durch den Spalt der halb geschlossenen Tür hinter dem Altar erspähte er eine Gestalt. Es war ein Mann in goldbestickten Gewändern und einem hohen Hut, der ihn als Bediensteten am Hofe auswies. Sein schwarzes Haar trug er zu einem Zopf gebunden und sein Kinn wurde durch einen lockigen Bart geziert, ein Zeichen des Wohlstandes. Er hatte eine stattliche, kräftige Figur und einen hypnotischen Blick, der es dem Dieb unmöglich machte, sich vom Fleck zu bewegen. Wie angewurzelt verharrte Kura an Ort und Stelle.Wie lang stehst du da schon? Hast du uns belauscht? Kura verspürte ein Ansteigen des Adrenalins in seinen Adern, noch bevor der Fremde die Tür öffnete und in die Halle trat.

»Ich sah dich in einem Traum«, sprach der Mann mit dem goldbestickten Gewand ihn unvermittelt an.

Er hat auf mich gewartet, war Kuras erster Gedanke. Und auf eine Gelegenheit gewartet.

»Dein Gesicht verhüllt von einem weißen Tuch. Dein Körper bedeckt mit Stoffen, um die Narben darunter zu verstecken«, sagte der Mann.

Kura zuckte vor Schreck zusammen. In seinem Kopf schrillten die Alarmglocken. Der Mann lächelte. Dem Dieb wurde siedend heiß. Was willst du von mir? Hast du mir die Tontafel zugesteckt? Nein, die Person war kleiner, schlanker. Kuras Mund wurde ganz trocken, weshalb er sich nervös mit seiner Zunge über die Lippen fuhr, um den Speichelfluss etwas anzuregen. »Ich glaube nicht, dass wir uns kennen.«

»Oh, das tun wir auch nicht«, erwiderte sein Gegenüber. »Wir lernen einander gerade erst kennen. Ich bin Sargon, aus Azupiranu.«

Kura horchte auf. Das hätte er nicht erwartet. Unwillkürlich fragte er sich, ob der Fremde seine Adoptivmutter kannte.

»Dein Name ist?«, unterbrach Sargon seine Gedankengänge.

»Man nennt mich Kura, der Bergländer. Ich komme ursprünglich aus Akkad, aber meine Familie«, begann er. Doch ehe er zu Ende sprechen konnte, kehrte das Mädchen zurück, zu seinem Pech mit bewaffneten Wachmännern. Gehetzt wanderte sein Blick zu den Männern, deren Körperkraft der seinen eindeutig überlegen war. »Sieht so aus, als ob die was dagegen hätten, dass wir uns unterhalten«, meinte er und gedachte auf dem Absatz kehrt zu machen.

Die Wachen waren schneller. Ehe er es sich versah, gelang es ihnen ihm den Weg zu versperren und ihn mit ihren Speeren zu bedrohen. »Was soll das?«, hallte im selben Moment die Stimme Sargons durch den Raum. »Gedenkt ihr diesen heiligen Ort zu entweihen? Habt ihr vergessen, wo ihr euch befindet?« Seine Augen funkelten zornig. »Dieser junge Mann ist gekommen um den Göttern seinen Dienst zu erweisen. Mit welchem Recht dringt ihr bewaffnet in den Tempel ein, um einen Besucher zu verhaften?«

»Auf Geheiß des Lugal«, erwiderte einer der Männer. »Es wurde an uns herangetragen, dass sich ein Fremdling in der Stadt herumtreibt, dessen Absichten den Sturz des Lugal vorsehen.«

Kura konnte ein überraschtes Keuchen nicht unterdrücken. »Ich hatte nie die Absicht«, verteidigte er sich sofort. Was für eine infame Behauptung. Das war eine Frechheit. »Ich wollte lediglich die En Priesterin um einen Gefallen bitten. Sie hatte meiner Adoptivmutter eine Nachricht zukommen lassen, mit Bitte um Unterstützung.«

»Von einer solchen Nachricht ist uns nichts bekannt. Die höchste Priesterschaft selbst hat dem Lugal geraten jeden vermummten Mann zu fassen, der die Tempelhallen betritt.«

»Na prima«, knurrte Kura und zog den rubinroten Opal aus seinem Beutel. »Als ob ihr mich nicht gejagt hättet, wenn ihr mich ohne meinen Sonnenschutz gesehen hättet.« Mit einer eleganten Bewegung entfernte er zeitgleich das Tuch von seinem Kopf, welches er sich zum Teil auch über den Oberkörper gebunden hatte. Sowohl der Anblick des Feueropals, als auch die Narben auf seiner Brust, sorgten für die nötige Ablenkung. »Keine Sorge, ich wollte nicht den Tempel beklauen.«

Aus einer Laune heraus zwinkerte er Sargon zu, bevor er sein Tuch den Männern entgegen warf. Wie erwartet, konzentrierten sie sich einen Moment lang darauf es abzuwehren. Diese Gelegenheit nutzte Kura, um an ihnen vorbeizusprinten. Mit seiner Rechten umklammerte er noch den Edelstein. Um seinen Häschern zu entgehen, spurtete er in den Nebenraum auf der linken Seite, ausgehend vom Eingang zur Privathalle.

Von dort gelangte er zu weiteren Räumlichkeiten, die den Tempelkern umschlossen. Er hatte Glück und begegnete niemandem. Die Zimmer waren dunkel, was sein Vorankommen erschwerte. Hinter sich vernahm er Schritte, die von den Wachen herrührten, die seine Verfolgung aufgenommen hatten. Beunruhigend war, dass ihm niemand entgegen kam. Das konnte nur bedeuten, dieser Weg endete in einer Sackgasse.

Da kein Ausgang in Sichtweite war, brauchte er dringend ein Versteck. Während er noch scharf nachdachte, drehte er einmal an dem Stein und drückte ihn fest in seiner Hand. Er begann zu glänzen und zu glühen. Kurz darauf glaubte er, Nebel breite sich in seiner unmittelbaren Umgebung aus. Als er an sich herunterblickte, gewahrte er, dass er selbst der Ursprung davon zu sein schien und seine Füße im matten Licht fast weißlich schimmerten.

Huh. Was ist jetzt auf einmal los? Erschrocken ließ er den Stein auf den Boden fallen. Ein leises Klonk ertönte, bevor der Stein unter einen Tisch zu seiner Rechten rollte, über dem Tücher und Decken hingen.

Die Schritte, welche ihm gefolgt waren, wurden lauter. Kura wich zurück und stieß gegen eine Mauer. Zu seiner Überraschung gab diese nach und er fiel förmlich hindurch. Wild mit den Armen rudernd, versuchte er Halt zu finden. Aber da war nichts. Kein Widerstand, kein Körpergefühl, das es ihm ermöglicht hätte sein Gleichgewicht binnen weniger Sekunden wieder zu gewinnen. Das Mauerwerk war durchlässig geworden. Lediglich der Boden bot ihm halt.

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