
Auszug aus Kapitel 2
Der
Tempel war am Vormittag nur spärlich besucht. Abgesehen von ein paar Tempeldienerinnen
hielt sich niemand in den heiligen Hallen der Inanna auf. Bei den Dienerinnen
handelte es sich zumeist um junge Frauen edlen Geblüts. Auf diese Weise blieben
Politik und Glaube stets eng miteinander verwoben. Vielfach gelang ihnen das mehr
schlecht als recht, fand Kura. Macht verleitete zum Missbrauch. In Zeiten der
Unbeständigkeit könnte das Land einen neuen starken Herrscher gebrauchen, wie
jene, die vor der Sintflut regiert hatten. Eben einen Mann, der in der Lage
wäre, das Reich zu einen. Im Moment breitete sich über den Ländereien am
Buranun und Idigna jedoch ein Fleckenteppich kleiner Stadtstaaten aus, die um
eine Vormachtstellung konkurrierten, worunter die einfache Bevölkerung zu
leiden hatte.
In
Gedanken daran versunken, wanderte Kura durch die schmalen Straßen der Stadt
zum großen Tempel, dessen Vorplatz von Palmen und Zierpflanzen gesäumt wurde.
Von der Hauptstraße aus verlief ein grüner Teppich bis zum Haupttor. Über dem
Tor waren ein zusammengebundenes Schilfrohrbündel und zwei achtzackige Sterne
in den Stein gehauen. Zu beiden Seiten flankierten Löwenstatuen den Zugang zur
Eingangshalle. Trotz der friedlichen Atmosphäre, die den rechteckigen
Gebäudekomplex umgab, erschien es Kura als ungeschickt, ausgerechnet durch die
Vordertür einzutreten. Die Seitentore auf der westlichen Längsseite des
heiligen Hauses lagen im Schatten angrenzender Wohnhäuser. Diese wurden zum
Teil von Tempeldienern und Priestern bewohnt. In manchen lebten auch reiche Händler,
was an den prunkvoll bemalten Häuserfassaden erkennbar war, die zum Teil
Einflüsse anderer Kulturen aufwiesen.
Der
Dieb bog in die schmale Seitenstraße ab. Gemäß den sumerischen Baukonventionen
führten die Seitentore ebenfalls zu einem Vorraum mit drei Durchgängen, von
denen zwei an ein Netz von Räumen anschlossen, die den Kern des Tempels wie
einen Rahmen umspannten.
Bei
großen Tempelkomplexen bestand der Kern aus drei Räumen: einem rechteckigen
Hauptraum, der für offizielle Zeremonien genutzt wurde, einem Durchgangsraum
und dem Herzstück des Tempels, der Zella, die für kleinere und private Riten
genutzt wurde, sowie einer Privathalle.
In
der Zella wurde das Heiligtum aufbewahrt, eine kunstvoll gefertigte Statue der
Inanna, die von den Priestern geweiht und mit den ihr zugesprochenen Attributen
ausgestattet war, einer Hörnerkrone und einem Ährenbündel. Um ihren Hals hing
eine Kette mit einem achtzackigen Sternemblem. In ihren Händen hielt sie
Schwerter. Ihr mehrstufiger Faltenrock hing hinab bis zum Boden. Nur zu
festlichen Anlässen wurde sie ausgeführt und war außerhalb des Tempels zu
sehen.
Sie
zu stehlen stand außer Frage. Zum Einen aufgrund seines Respekts gegenüber dem
Handwerker, der dieses Kunstwerk geschaffen hatte, zum Anderen auch wegen der
Legenden, von welchen ihm Isharra berichtet hatte. Es hieß, die einen Fuß große
Statue sei das Abbild der Göttin Inanna selbst und im Zuge des sogenannten
Mundwaschungsrituals entsprechend mit einer Seele ausgestattet worden. Bei dem
Mundwaschungsritual handelte es sich um eine besondere Zeremonie, die mehrere
Tage andauerte und der Weihe der Statue diente. Sollte zwischen dem Drehen des
Feueropals und dem Sandsturm in Akkad ein Zusammenhang bestehen, könnte auch
diese Geschichte ein Fünkchen Wahrheit enthalten. Daher riskierte er besser
nicht, den Zorn der Statue auf sich zu ziehen.
Auf
seinem Weg durch die Haupthalle und den Durchgangsraum, der zur Zella und der
Privathalle führte, begegnete er niemandem. Die Wachen hielten sich am
Haupteingang auf, und die Haupthalle wurde um diese Tageszeit für keinerlei
Riten genutzt. Erst in der Privathalle gewahrte er eine Dienerin, die an einem
Altar ihre Gebete verrichtete.
Der
schlichte Altar stand in der rechten Hälfte des Raums, flankiert von zwei
kleineren Löwenstatuetten. Dahinter war eine Tür zu erkennen, die zu einem
anderen Raum führte. Kura wartete am Eingang zur Privathalle, bis sie ihren
Lobpreis gesungen und die Weihformeln gesprochen hatte, bevor er sacht an den
Türrahmen klopfte.
Das
Mädchen zuckte regelrecht zusammen und sprang erschrocken auf, als sie ihn sah.
Sie war höchstens vierzehn, ihrer Gestalt nach zu urteilen, und trug ein
sogenanntes Wickelkleid. Dieses bestand aus einem langen, rechteckigen Tuch,
das sie sich um den Körper gebunden hatte. Um ihre Taille herum war der Stoff
fester gezogen. Die rechte Schulter blieb frei. Ihr Haar trug sie offen, doch
wurde es durch ihren Kopfschmuck, einer goldenen Kette mit weißen Perlen, davon
abgehalten in ihr Gesicht zu fallen. »Wer seid Ihr? Was sucht Ihr hier?« Ihre
Stimme verriet Argwohn und ihre gesamte Haltung wirkte angespannt.
Wenn
er nicht aufpasste, lief sie davon und rief nach den Tempelwachen. »Ich bin ein
Bote der Enitum aus Akkad. Sie erhielt eine Nachricht vom Tempel. Ich bin die
Unterstützung, um die Ihr angesucht habt.«
Ihm
war bewusst, dass er nicht mit der Tür ins Haus fallen durfte und die kleine
Lüge bot sich gut an. Auf diese Weise könnte er ihr Vertrauen gewinnen. Für
eine kleine Dienstleistung, wären sie vielleicht eher bereit, seine
Adoptivmutter gemäß den traditionellen Riten in ihrer Heimatstadt zu bestatten.
Das
Mädchen runzelte die Stirn. »In welcher Angelegenheit sollte der Tempel Hilfe
benötigen?«
»Fragt
die En Priesterin, wenn Ihr mir nicht glaubt«, antwortete der Dieb keck.
»Bleibt
wo Ihr seid. Ich werde nach ihr schicken lassen. Wenn Ihr ein Ehrenmann seid,
wird sie es erkennen und mit Euch sprechen.« Mit diesen Worten verschwand sie
durch eine der westlich befindlichen Seitentüren.
Neugierig
trat Kura in den Raum hinein und sah sich um. Es gab sogar drei Türen, wovon
eine in den Durchgangsraum führte, aus dem er gekommen war.
Durch
den Spalt der halb geschlossenen Tür hinter dem Altar erspähte er eine Gestalt.
Es war ein Mann in goldbestickten Gewändern und einem hohen Hut, der ihn als
Bediensteten am Hofe auswies. Sein schwarzes Haar trug er zu einem Zopf
gebunden und sein Kinn wurde durch einen lockigen Bart geziert, ein Zeichen des
Wohlstandes. Er hatte eine stattliche, kräftige Figur und einen hypnotischen
Blick, der es dem Dieb unmöglich machte, sich vom Fleck zu bewegen. Wie
angewurzelt verharrte Kura an Ort und Stelle.Wie lang stehst du da schon?
Hast du uns belauscht? Kura verspürte ein Ansteigen des Adrenalins in
seinen Adern, noch bevor der Fremde die Tür öffnete und in die Halle trat.
»Ich
sah dich in einem Traum«, sprach der Mann mit dem goldbestickten Gewand ihn
unvermittelt an.
Er
hat auf mich gewartet, war Kuras erster Gedanke. Und auf eine Gelegenheit gewartet.
»Dein
Gesicht verhüllt von einem weißen Tuch. Dein Körper bedeckt mit Stoffen, um die
Narben darunter zu verstecken«, sagte der Mann.
Kura
zuckte vor Schreck zusammen. In seinem Kopf schrillten die Alarmglocken. Der
Mann lächelte. Dem Dieb wurde siedend heiß. Was willst du von mir? Hast du
mir die Tontafel zugesteckt? Nein, die Person war kleiner, schlanker. Kuras
Mund wurde ganz trocken, weshalb er sich nervös mit seiner Zunge über die
Lippen fuhr, um den Speichelfluss etwas anzuregen. »Ich glaube nicht, dass wir
uns kennen.«
»Oh,
das tun wir auch nicht«, erwiderte sein Gegenüber. »Wir lernen einander gerade
erst kennen. Ich bin Sargon, aus Azupiranu.«
Kura
horchte auf. Das hätte er nicht erwartet. Unwillkürlich fragte er sich, ob der
Fremde seine Adoptivmutter kannte.
»Dein
Name ist?«, unterbrach Sargon seine Gedankengänge.
»Man
nennt mich Kura, der Bergländer. Ich komme ursprünglich aus Akkad, aber meine
Familie«, begann er. Doch ehe er zu Ende sprechen konnte, kehrte das Mädchen
zurück, zu seinem Pech mit bewaffneten Wachmännern. Gehetzt wanderte sein Blick
zu den Männern, deren Körperkraft der seinen eindeutig überlegen war. »Sieht so
aus, als ob die was dagegen hätten, dass wir uns unterhalten«, meinte er und
gedachte auf dem Absatz kehrt zu machen.
Die
Wachen waren schneller. Ehe er es sich versah, gelang es ihnen ihm den Weg zu
versperren und ihn mit ihren Speeren zu bedrohen. »Was soll das?«, hallte im
selben Moment die Stimme Sargons durch den Raum. »Gedenkt ihr diesen heiligen
Ort zu entweihen? Habt ihr vergessen, wo ihr euch befindet?« Seine Augen
funkelten zornig. »Dieser junge Mann ist gekommen um den Göttern seinen Dienst
zu erweisen. Mit welchem Recht dringt ihr bewaffnet in den Tempel ein, um einen
Besucher zu verhaften?«
»Auf
Geheiß des Lugal«, erwiderte einer der Männer. »Es wurde an uns herangetragen,
dass sich ein Fremdling in der Stadt herumtreibt, dessen Absichten den Sturz
des Lugal vorsehen.«
Kura
konnte ein überraschtes Keuchen nicht unterdrücken. »Ich hatte nie die
Absicht«, verteidigte er sich sofort. Was für eine infame Behauptung. Das war
eine Frechheit. »Ich wollte lediglich die En Priesterin um einen Gefallen
bitten. Sie hatte meiner Adoptivmutter eine Nachricht zukommen lassen, mit
Bitte um Unterstützung.«
»Von
einer solchen Nachricht ist uns nichts bekannt. Die höchste Priesterschaft
selbst hat dem Lugal geraten jeden vermummten Mann zu fassen, der die
Tempelhallen betritt.«
»Na
prima«, knurrte Kura und zog den rubinroten Opal aus seinem Beutel. »Als ob ihr
mich nicht gejagt hättet, wenn ihr mich ohne meinen Sonnenschutz gesehen
hättet.« Mit einer eleganten Bewegung entfernte er zeitgleich das Tuch von
seinem Kopf, welches er sich zum Teil auch über den Oberkörper gebunden hatte.
Sowohl der Anblick des Feueropals, als auch die Narben auf seiner Brust,
sorgten für die nötige Ablenkung. »Keine Sorge, ich wollte nicht den Tempel
beklauen.«
Aus
einer Laune heraus zwinkerte er Sargon zu, bevor er sein Tuch den Männern
entgegen warf. Wie erwartet, konzentrierten sie sich einen Moment lang darauf
es abzuwehren. Diese Gelegenheit nutzte Kura, um an ihnen vorbeizusprinten. Mit
seiner Rechten umklammerte er noch den Edelstein. Um seinen Häschern zu
entgehen, spurtete er in den Nebenraum auf der linken Seite, ausgehend vom
Eingang zur Privathalle.
Von
dort gelangte er zu weiteren Räumlichkeiten, die den Tempelkern umschlossen. Er
hatte Glück und begegnete niemandem. Die Zimmer waren dunkel, was sein
Vorankommen erschwerte. Hinter sich vernahm er Schritte, die von den Wachen
herrührten, die seine Verfolgung aufgenommen hatten. Beunruhigend war, dass ihm
niemand entgegen kam. Das konnte nur bedeuten, dieser Weg endete in einer
Sackgasse.
Da
kein Ausgang in Sichtweite war, brauchte er dringend ein Versteck. Während er
noch scharf nachdachte, drehte er einmal an dem Stein und drückte ihn fest in
seiner Hand. Er begann zu glänzen und zu glühen. Kurz darauf glaubte er, Nebel
breite sich in seiner unmittelbaren Umgebung aus. Als er an sich
herunterblickte, gewahrte er, dass er selbst der Ursprung davon zu sein schien
und seine Füße im matten Licht fast weißlich schimmerten.
Huh.
Was ist jetzt auf einmal los? Erschrocken ließ er den
Stein auf den Boden fallen. Ein leises Klonk ertönte, bevor der Stein unter
einen Tisch zu seiner Rechten rollte, über dem Tücher und Decken hingen.
Die
Schritte, welche ihm gefolgt waren, wurden lauter. Kura wich zurück und stieß
gegen eine Mauer. Zu seiner Überraschung gab diese nach und er fiel förmlich
hindurch. Wild mit den Armen rudernd, versuchte er Halt zu finden. Aber da war
nichts. Kein Widerstand, kein Körpergefühl, das es ihm ermöglicht hätte sein
Gleichgewicht binnen weniger Sekunden wieder zu gewinnen. Das Mauerwerk war
durchlässig geworden. Lediglich der Boden bot ihm halt.
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