
Revas‘
Frühlingsmond
Das Warten auf den Beginn des
Festes zog sich in die Länge wie das Warten auf den erlösenden kühlen Regenguss
an einem schwülen, heißen Sommertag, an dem einem die Zunge am Gaumen und die
verschwitzte Kleidung am Körper klebte.
»Heute ist es so weit.« Revas
wiederholte den Gedanken zum hundertsten Male seit dem frühen Morgen. »Ab heute
werde ich zu den Erwachsenen zählen.«
Revas war das einzige Mädchen im
Dorf, das in diesem Jahr ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert hatte. Bis die
Feierlichkeiten losgingen, war sie alleine in den großen Mädchenschlafraum
verbannt. Dort sollte sie ungestört meditieren, ihre Kindheit Revue passieren
lassen und ihre Gedanken auf den neuen Lebensabschnitt richten, der nun vor ihr
lag, bis die Frauen kamen und sie für die Zeremonie einkleideten.
Nur ihre jüngere Schwester Dercah
kümmerte ihre Kontemplation herzlich wenig, sie stürmte herein und kramte
geräuschvoll unter ihrem Bett in der Kiste, in der die Mädchen ihre
Habseligkeiten aufbewahrten. Natürlich, ohne auf Revas Rücksicht zu nehmen...
»Was grinst du so dämlich?«
Kampflustig hob Dercah den Kopf.
»Heute kannst du sagen, was du
willst, ist mir völlig egal.« Genüsslich kuschelte sich Revas in einenweichen
Schal. »Heute Abend ziehe ich in meine Honigkammer. Dich bin ich endlich los.«
»Nur in deinem Zimmer.« Dercah
kniff drohend die Augen zusammen. »Aber ich lebe in diesem Haus - für immer!
Mich wirst du niemals los!«
Doch Revas hörte nicht mehr hin,
sie versank ganz in der Vorfreude auf die kommenden Stunden. Die Zeremonie
stand ihr genau vor Augen: Ihre Mutter würde ihr den mit Perlen und Edelsteinen
und vielen Seidenbändern verzierten Gürtel der erwachsenen Frau um die Taille
legen. Die Frauen würden ihr Geschenke überreichen und sie feierlich zu ihrem
ersten eigenen Zimmer geleiten, das sie für sie mit Blumen und Kerzen
geschmückt und mit Thymian ausgeräuchert hatten. Nie wieder musste sie im
Schlafsaal bei den kleinen Mädchen schlafen. Später, nach dem Festmahl, durfte
sie die ganze Nacht tanzen, solange sie wollte. In Gedanken versunken hörte sie
kaum, wie Dercah beim Hinausgehen die Türe hinter sich zuknallte.
Wenn ich So Be'ns Fingerspitzen
beim Tanzen in meiner Hand spüre, werde ich vor Glück zerspringen.
Revas hatte keinen größeren
Wunsch, als dass So Be'n der erste Besucher in ihrem neuen Zimmer und in ihrem
neuen Leben als Frau sein sollte. Natürlich würde sie seine Fingerspitzen
ebenfalls berühren. Dann wüsste er, dass sie ihm gewogen war, und würde sich
trauen, seine Werbung öffentlich mit einem Lied zu wiederholen. Wenn sie an
seine Augen dachte, wurde ihr ganz sehnsüchtig zumute.
Kein anderer Mann im Dorf hatte
derart strahlend dunkelblaue Augen. Manchmal schaute er sie damit so merkwürdig
an und immer spielte ein Lächeln um seine Augenwinkel. Das mochte sie besonders
an ihm. Und seine langen Wimpern. Es bestand kein Zweifel, So Be'n sah
umwerfend aus.
Das erste Mal. Mit So Be'n.
Revas seufzte in ihren Schal.
Eine Eigentümlichkeit der Amets
bestand darin, dass die Töchter und Söhne ihr ganzes Leben im Haus ihrer Mutter
lebten. Wenn eine Tochter zur Frau heranwuchs, durfte sie sich einen Liebhaber
erwählen, der sie nachts besuchen kam. Tagsüber lebte der Mann bei der Familie
seiner eigenen Mutter. Wenn Revas Kinder bekäme, blieben diese auch in Zukunft
bei ihr wohnen.
Endlich, kurz vor
Sonnenuntergang, betrat Revas den Festsaal, nur in ein schmal geschnittenes
Gewand aus schwerer, weißer Rohseide gekleidet. Die langen Ärmel bedeckten ihre
Handgelenke, das Zeichen der doppelten Raute auf ihrer Stirn war zur Feier des
Tages rot nachgezogen. Revas zitterte vor Aufregung.
Männer hatten hier heute keinen
Zugang. Nur die Frauen des Dorfes hatten sich versammelt, um Revas
Initiationsfeier zu begehen. Alle blickten sie feierlich und erwartungsvoll an.
Rosenduft erfüllte den Raum. Die Frauen hatten silberweiße Blütengirlanden um
die Türrahmen und das Podest geschlungen, auf dem ihre Mutter stand und auf sie
wartete. Revas atmete tief ein und aus.
Voller Stolz empfing Ma Yalá ihre
Tochter und band ihr den blutroten, von Edelsteinen schimmernden Gürtel um die
Taille.
Gerührt gab Revas ihrer Mutter
einen Kuss.
Danach trat jede der Frauen
einzeln vor, überreichte Revas einen Rubin und nahm sie mit dieser Geste in den
Kreis der Erwachsenen auf.
Revas Hände zitterten, als sie
die Edelsteine entgegennahm und an ihre Mutter weiterreichte. Tränen liefen ihr
über die Wangen.
Die Frauen stimmten das Lied der
Initiation an. Sie sangen von Blut, Müttern, Großmüttern und dem ewigen Kreis
der Weiblichkeit, der sich wieder und wieder aufs Neue schloss.
Ma Yalá hatte in der Zwischenzeit
die rotschimmernden Edelsteine an einem geflochtenen Lederband befestigt und
legte ihr nun das Rubinarmband um das Handgelenk.
Rubingürtel und Rubinarmband -
das Zeichen des Bundes, dem alle Frauen angehörten.
Jetzt bin ich ein Teil davon,
jetzt bin ich eine erwachsene Frau.
Wie kleine Mädchen bewunderten
die Frauen das Kleid, den Gürtel und den Schmuck. Sie klatschten in die Hände,
lachten und umringten Revas, um ihr zu gratulieren.
Feierlich geleiteten die Frauen
und Mädchen sie zum Ufer des Moes, wo sie sich vor der Göttin des Flusses
verneigte und eine Schale voll bunter Blüten auf der Wasseroberfläche
verstreute.
»Diese Blumen sind für dich,
Göttin.«, sprach Revas andächtig die gebotenen Worte, »Von heute an bin ich
eine Ametfrau. Bitte wache über mich und die Meinen!«
Als sie vom Fluss zurückkehrte,
überreichte ihr Ma Yalá eine silberne Kette, an der ein kleiner Schlüssel hing.
Mit einer Brosche befestigt Revas sie an ihrem Gewand, den Schlüssel steckte
sie unter den Gürtel.
Der Schlüssel zu meiner
Honigkammer.
Revas war wie betäubt vor Freude.
[…]
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