Freitag, 11. Oktober 2024

[Schnipseltime] Ethan von Kai C. Moore


 

 Kapitel 2 – 1986

 

Die Wände trugen ihren Duft wie die Menschen ihr Parfüm.

Im Grunde rochen sie alle gleich – nach Mörtel, Raufasertapeten und Kleister, nach Backsteinen und pappiger Farbe. Manchmal kam der Geruch eines Teppichs dazu, manchmal der von Parkett. Mit der Zeit entwickelten Wände, die sich zusammenfanden – zu einer Wohnung, einem Bungalow, einem Haus – einen eigenen Duft, der geprägt war von denen, die sie beherbergten. Vermutlich war es mit Menschen recht ähnlich. Zumindest war ihm noch nie ein Säugling begegnet, der den sauren Geschmack des Alters verströmte.

Diese Wohnung roch nach Staub, nach alten Pfannkuchen und zu lange eingeweichtem Abwasch, nach warmem Plastik, als wäre vor langer Zeit ein Kabel durchgeschmort. An den Tapeten haftete frische Farbe, ein weiterer Geruch, nämlich der nach Chemie oder Lack oder beidem, und irgendwo weit entfernt lag der Nachhall eines Menschen.

»Ich hoffe, sie gefällt dir«, sagte Nathaniel. Er lehnte im Türrahmen, die Reisetasche vor sich abgestellt, während ein Lächeln die Ansätze seiner Zähne enthüllte. »Sie ist klein, aber für uns beide sollte das passen.«

»Wie viel?«

»Das musst du nicht wissen.« Mit einem unterdrückten Ächzen schob er das Gepäck über die Schwelle und lächelte noch breiter. Zwischen seinen Schneidezähnen tat sich eine Lücke auf, ein unscheinbarer, schwarzer Balken: vermutlich der Grund, weshalb seine S-Laute entfernt an ein dumpfes Pfeifen erinnerten.

Ethan bettete Nathaniels Kinn in seine Handfläche und strich mit dem Daumen über diese lächelnden Lippen, ehe er sie küsste.

»Das nehme ich als Ja«, flüsterte Nathaniel und küsste ihn wieder.

Im rechten Zimmer lag eine Matratze auf dem Boden. Aus der Reisetasche holte Ethan provisorisches Bettzeug, unter dem die alten Flecken verschwanden, und ein neuer Geruch erfüllte den Raum: das Waschmittel aus dem Waschsalon. Ein paar Münzen für saubere Wäsche. Während Nathaniel wieder in seine Schuhe schlüpfte, um sich um das Abendessen zu kümmern, streifte Ethan durch die leeren Räume. In der Küche gab es eine gebogene Arbeitsplatte und ein paar ockergrüne Schränke, ein Loch, wo einst ein Herd, und eine Pfütze, wo zuvor ein Kühlschrank gestanden hatte. Die Anschlüsse für das Waschbecken höhnten in der Wand. Im Lampenschirm fingen sich tote Fliegen.

Er entdeckte eine Toilette, beige und ungeputzt, und hoffte, Nathaniel würde an Badreiniger denken. Ein längliches Bad, in das gerade so ein Wäschekorb zu passen schien, ohne den Durchgang vollends zu versperren, eine Badewanne mit Duschvorhang, ein leicht schräges Waschbecken, unter dem noch ein karmesinrot angestrichenes Schränkchen stand; die Scharniere der einen Seite hielten die Tür nur noch unter Schmerzen.

Dann fand er das Zimmer mit der Dachschräge. Langsam, denn sein Brustkorb pochte noch immer, ließ er sich in den Schneidersitz sinken. Vom Fensterrahmen rieselte Staub. Im Licht einer schwindenden Sonne glänzten die Partikel wie Gold. Sie segelten zu Boden, leise und leicht wie Herbstlaub, während er stillsaß und versuchte, sie zu zählen.

Die Wochen nach ihrer Flucht verliefen ineinander zu einem Strudel. Wenn er versuchte, die Erinnerung zu fassen, zerrte sie ihn mit sich, bis er in ihr ertrank. In seinen Träumen sah er ein Lächeln, blutige Schlieren auf weißen Zähnen; Flammen aus Glas leckten über sein Gesicht. Unter seinen Achseln bildeten sich feuchte Höhlen. Die Male an seinem Hals verschwanden mit den Wochen. Seine Alpträume blieben. Dazwischen: Nathaniels gedankenverlorenes Lächeln, eine warme Hand auf seinem Rücken, heimliche Konzerte in Hotelzimmern, zusammengerückte Einzelbetten, Mittagessen im Pub.

Doch woran er sich erinnerte, war dieser erste Abend in der Wohnung: als er vor dem Dachfenster saß und dem Himmel zusah, wie er sich verfärbte, von Rosa zu Gold, von Orange zu Schwarz, verwischt von einem allzu gleichgültigen Finger, und wie der Staub von der Decke fiel. Schneeflocken im Winter.

Nathaniels Schlüssel kündigte seine Ankunft an. Begleitet von Tütenrascheln zog er seine Schuhe aus. Neben ihm sank er zu Boden und starrte aus dem Fenster. Ein neuer Geruch breitete sich in der Wohnung aus: der fettige Duft von asiatischen Gerichten.

»Können wir hier schlafen?«, fragte Ethan.

Warme Finger glitten über seine. »Wo immer du willst.«

 

Die Nudeln glänzten im Abendlicht und hinterließen ihre Spuren auf Nathaniels Lippen. »Morgen schlafen wir erst mal aus«, sagte er. »Später können wir zu Sainsbury’s gehen. Das ist kaum zehn Minuten von hier.«

Ethan widersprach nicht.

Nach dem Essen schoben sie die Matratze über den Flur und legten sie unter das Dachfenster. Nathaniel bewarf ihn mit Kissen, als er das Bettlaken gerade wieder festzog. Betont lässig – weil er wusste, dass Nathaniel diese Art des Spiels gefiel – schleuderte er die Kissen über die Schulter zurück. Ein dumpfer Laut und ein Lachen belohnten ihn.

Sie schliefen nicht nur am ersten, sondern auch am dritten und fünften Tag aus. So spät gingen sie ins Bett, dass die Nacht schon fast vorüber war, und wachten auf, wenn es im Hausflur nach Speck und Zwiebeln roch. Es war eine lähmende Ruhe, die sie einholte. Lange Zeit lagen sie nebeneinander auf der Matratze, betrachteten die Blautöne des Himmels und zählten die Wolken, die hinter der Scheibe vorbeizogen. Zumindest er zählte sie. Nathaniel dagegen fand Geister und Löwen und Heckenscheren in den Wolken, und er schob die Unterlippe vor, wenn Ethan behauptete, nichts davon zu sehen. Sein Daumen strich Nathaniels Arm entlang, bis die feinen Härchen dort standen und die Küsse, die sie teilten, nachdrücklicher wurden. Manchmal schlang Nathaniel sein Bein unter seines, rückte näher an ihn heran, bis die Hitze unter der Decke unerträglich wurde, und einmal – es war der Samstag nach ihrem Einzug –, schob er sich auf ihn. Ihre Körper rieben aneinander, vollständig bedeckt, in einem schüchternen, unsicheren Rhythmus. Auf Nathaniels Wangen lag eine Spur Rosa. Sein Blick flackerte zur Seite, zur Decke, an Ethans halb geöffnetem Hemd entlang. »Ich …«, sagte er, und dann sagte er nichts mehr. Als er von seinem Schoß rutschen wollte, hielt Ethan ihn zurück. »Schon gut. Bleib hier.« Ineinander verschlungen verschliefen sie einen weiteren Nachmittag.

Als Ethan aufwachte, fand er Nathaniel in der Küche. Er lehnte an der Arbeitsplatte, direkt neben dem quadratischen Loch, in das ein Ceranfeld passen sollte, und trank Filterkaffee aus einem Pappbecher. Sein Shirt war noch immer hochgerutscht, als hätten Ethans Finger es eine Handbreit über seinem Gürtel befestigt. Sonnenlicht kletterte über seine nackten Unterarme, weiter über den Linoleumboden, eine Mülltüte, für die es noch keinen Eimer gab, und schließlich bis zur Türschwelle.

»Es gibt da etwas, das du nicht weißt«, sagte Nathaniel, ohne sich umzudrehen.

Ethan legte von hinten die Arme um Nathaniels Hüften. »Wirst du es mir sagen?«

Ein Kopfschütteln, dann ein Seufzen. Viele kleine Schlucke, als wollte er verhindern, dass Worte seinen Mund verließen. Schließlich sagte er: »Erinnerst du dich an die Party?«

 

Am Montag ging Nathaniel allein zum Supermarkt. Zurück kam er nicht nur mit einer Tüte Brot, Dosenbohnen und Butter, sondern auch mit einem Job. »Wir können nicht ewig hier drin rumsitzen«, sagte er, während er ein Marmeladenglas in den Schrank räumte. Er fuhr sich durch das Haar, beugte sich wieder hinab zu der Tüte zwischen seinen Füßen und holte ein Paket Salz heraus. »Sie hatten eine Stelle ausgeschrieben, also habe ich direkt vorgesprochen.«

»Danke«, sagte Ethan.

Nathaniel hielt inne, um zu lächeln. »Es wird alles gut, du wirst schon sehen.«

Den Montag darauf ging er zum ersten Mal zu seiner neuen Arbeit.

 

Über Ivy hatten sie gesprochen, über Tony und über Drogen. Über das Gefühl, das ihn befiel, sobald er nur daran dachte, nackt mit ihm zu sein. Sie waren an ihren Platz unter den Wolken zurückgekehrt, doch das letzte Abendlicht verbarg die Figuren, und das offene Fenster raubte die Illusion der Abgeschiedenheit. Ständiges Motorensummen verschluckte das ein oder andere Wort. Der Wind zupfte an der Decke, die über ihren Beinen lag. Mit ihm kam der Geruch nach Abgasen, aber auch der von Leben an einem warmen Frühlingstag. Nathaniel lag in Ethans Arm, das Gesicht an seiner Brust vergraben.

»Ich habe Tony einmal angerufen.« Er spielte mit den Hemdknöpfen neben seiner Nase. »Im Pawn’s. Weißt du, was er gesagt hat?«

Ethan deutete ein Kopfschütteln an.

»›Du hättest dich anders nie entspannt‹, sagte er. ›Ich wollte doch nur, dass du einmal im Leben Spaß hast, Mann.‹ Ich habe ihn gefragt, wieso Ivy dann Bescheid wusste, und er hat gelacht. ›Das hast du dir eingebildet.‹ Aber … ich weiß, dass das nicht stimmt. Sie wusste es. Ganz sicher.«

Er fragte nicht nach, sondern küsste Nathaniels Haar.

»Sie ist schwanger von ihm«, sagte er. »Glaubst du, sie haben es damals schon miteinander gemacht?«

»Ist das wichtig?«

Ein Schulterzucken. »Vielleicht brauche ich einen Grund, um ihm nicht zu verzeihen.«

»Dafür hast du Grund genug.«

Nathaniel schnaubte, dann drehte er den Kopf zur Seite, bis sein Gesicht im Hemdstoff verschwand. Seine Finger lösten sich von den Knöpfen. Ein Schaudern durchfuhr seinen Körper und hielt sich zwischen seinen Schultern, ließ sie zittern, bis Ethan sicher war, dass er weinte. Sanft streichelte er ihn – eine Hand an seinem Arm, die andere an seiner Wange, während er mit dem Daumen die Kuhle seines Kiefers nachzeichnete.

Die Wolken über ihnen nahmen die Farbe von Pfirsichen an.

Irgendwann entschuldigte Nathaniel sich dafür, sein Hemd beschmutzt zu haben, und erhob sich, um Kaffee zu kochen. Ethan strich über die nassen Stellen an seiner Brust. Ein Hemdwechsel würde Nathaniel nur verlegener machen. Statt ihm zu folgen, schloss er das Fenster und sperrte die Welt aus, die sich so aufdringlich zwischen sie geschoben hatte, und zählte die Nägel, mit denen die Fußleiste an der Wand befestigt war.

»Mum mochte ihn«, sagte Nathaniel, als er mit zwei Pappbechern Kaffee zurückkehrte. »Sie erinnerte sich nicht immer an seinen Namen, aber sie erkannte ihn, jedes Mal, wenn er vor ihr stand.«

»Es ist in Ordnung, ihn zu vermissen und ihm dennoch nicht zu vergeben.«

»Wie machst du das?« Nathaniel drückte ihm einen Becher in die Hand. »Klebt ein Zettel an meiner Stirn?«

Ethan spürte sich lächeln. »Du denkst sehr viel.«

»Ach, wirklich?«

Nathaniel weinte noch viele Male in dieser Nacht. Es war, als hätten die ersten Tränen einen Damm eingerissen, den er nun nicht mehr schnell genug aufbauen, nicht halten konnte. Jedes Mal verbarg er sein Gesicht, hinter Händen, Knien oder an Ethans Brust, und nur selten sprach er währenddessen. Erst, als es bereits stockfinster war, flüsterte er: »Wäre ich an Weihnachten nur nach Hause gefahren. Hätte ich gewusst, dass wir das letzte Mal sprechen …«

Ethan umarmte ihn fest.

»Ich habe ihr nicht mal mehr gesagt, dass ich sie liebe.«

»Das wusste sie.«

»Wusste sie das?«

»Natürlich wusste sie das.« Er küsste sein Haar, seine Stirn und seine Wangen, und schließlich küssten sie sich wieder wie am Morgen, viel zu energisch, um sanft zu sein, als blieben ihnen nur ihre Lippen, um aneinander festzuhalten.

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