Kapitel 2 – 1986
Die Wände trugen ihren Duft wie die
Menschen ihr Parfüm.
Im
Grunde rochen sie alle gleich – nach Mörtel, Raufasertapeten und Kleister, nach
Backsteinen und pappiger Farbe. Manchmal kam der Geruch eines Teppichs dazu,
manchmal der von Parkett. Mit der Zeit entwickelten Wände, die sich
zusammenfanden – zu einer Wohnung, einem Bungalow, einem Haus – einen eigenen
Duft, der geprägt war von denen, die sie beherbergten. Vermutlich war es mit
Menschen recht ähnlich. Zumindest war ihm noch nie ein Säugling begegnet, der
den sauren Geschmack des Alters verströmte.
Diese
Wohnung roch nach Staub, nach alten Pfannkuchen und zu lange eingeweichtem
Abwasch, nach warmem Plastik, als wäre vor langer Zeit ein Kabel
durchgeschmort. An den Tapeten haftete frische Farbe, ein weiterer Geruch,
nämlich der nach Chemie oder Lack oder beidem, und irgendwo weit entfernt lag
der Nachhall eines Menschen.
»Ich
hoffe, sie gefällt dir«, sagte Nathaniel. Er lehnte im Türrahmen, die
Reisetasche vor sich abgestellt, während ein Lächeln die Ansätze seiner Zähne
enthüllte. »Sie ist klein, aber für uns beide sollte das passen.«
»Wie
viel?«
»Das
musst du nicht wissen.« Mit einem unterdrückten Ächzen schob er das Gepäck über
die Schwelle und lächelte noch breiter. Zwischen seinen Schneidezähnen tat sich
eine Lücke auf, ein unscheinbarer, schwarzer Balken: vermutlich der Grund,
weshalb seine S-Laute entfernt an ein dumpfes Pfeifen erinnerten.
Ethan
bettete Nathaniels Kinn in seine Handfläche und strich mit dem Daumen über
diese lächelnden Lippen, ehe er sie küsste.
»Das
nehme ich als Ja«, flüsterte Nathaniel und küsste ihn wieder.
Im
rechten Zimmer lag eine Matratze auf dem Boden. Aus der Reisetasche holte Ethan
provisorisches Bettzeug, unter dem die alten Flecken verschwanden, und ein
neuer Geruch erfüllte den Raum: das Waschmittel aus dem Waschsalon. Ein paar
Münzen für saubere Wäsche. Während Nathaniel wieder in seine Schuhe schlüpfte,
um sich um das Abendessen zu kümmern, streifte Ethan durch die leeren Räume. In
der Küche gab es eine gebogene Arbeitsplatte und ein paar ockergrüne Schränke,
ein Loch, wo einst ein Herd, und eine Pfütze, wo zuvor ein Kühlschrank
gestanden hatte. Die Anschlüsse für das Waschbecken höhnten in der Wand. Im
Lampenschirm fingen sich tote Fliegen.
Er
entdeckte eine Toilette, beige und ungeputzt, und hoffte, Nathaniel würde an
Badreiniger denken. Ein längliches Bad, in das gerade so ein Wäschekorb zu
passen schien, ohne den Durchgang vollends zu versperren, eine Badewanne mit
Duschvorhang, ein leicht schräges Waschbecken, unter dem noch ein karmesinrot
angestrichenes Schränkchen stand; die Scharniere der einen Seite hielten die
Tür nur noch unter Schmerzen.
Dann
fand er das Zimmer mit der Dachschräge. Langsam, denn sein Brustkorb pochte
noch immer, ließ er sich in den Schneidersitz sinken. Vom Fensterrahmen
rieselte Staub. Im Licht einer schwindenden Sonne glänzten die Partikel wie
Gold. Sie segelten zu Boden, leise und leicht wie Herbstlaub, während er
stillsaß und versuchte, sie zu zählen.
Die
Wochen nach ihrer Flucht verliefen ineinander zu einem Strudel. Wenn er
versuchte, die Erinnerung zu fassen, zerrte sie ihn mit sich, bis er in ihr
ertrank. In seinen Träumen sah er ein Lächeln, blutige Schlieren auf weißen
Zähnen; Flammen aus Glas leckten über sein Gesicht. Unter seinen Achseln
bildeten sich feuchte Höhlen. Die Male an seinem Hals verschwanden mit den
Wochen. Seine Alpträume blieben. Dazwischen: Nathaniels gedankenverlorenes
Lächeln, eine warme Hand auf seinem Rücken, heimliche Konzerte in Hotelzimmern,
zusammengerückte Einzelbetten, Mittagessen im Pub.
Doch
woran er sich erinnerte, war dieser erste Abend in der Wohnung: als er vor dem
Dachfenster saß und dem Himmel zusah, wie er sich verfärbte, von Rosa zu Gold,
von Orange zu Schwarz, verwischt von einem allzu gleichgültigen Finger, und wie
der Staub von der Decke fiel. Schneeflocken im Winter.
Nathaniels
Schlüssel kündigte seine Ankunft an. Begleitet von Tütenrascheln zog er seine
Schuhe aus. Neben ihm sank er zu Boden und starrte aus dem Fenster. Ein neuer
Geruch breitete sich in der Wohnung aus: der fettige Duft von asiatischen
Gerichten.
»Können
wir hier schlafen?«, fragte Ethan.
Warme
Finger glitten über seine. »Wo immer du willst.«
Die Nudeln glänzten im Abendlicht und
hinterließen ihre Spuren auf Nathaniels Lippen. »Morgen schlafen wir erst mal
aus«, sagte er. »Später können wir zu Sainsbury’s gehen. Das ist kaum zehn
Minuten von hier.«
Ethan
widersprach nicht.
Nach
dem Essen schoben sie die Matratze über den Flur und legten sie unter das
Dachfenster. Nathaniel bewarf ihn mit Kissen, als er das Bettlaken gerade
wieder festzog. Betont lässig – weil er wusste, dass Nathaniel diese Art des
Spiels gefiel – schleuderte er die Kissen über die Schulter zurück. Ein dumpfer
Laut und ein Lachen belohnten ihn.
Sie
schliefen nicht nur am ersten, sondern auch am dritten und fünften Tag aus. So
spät gingen sie ins Bett, dass die Nacht schon fast vorüber war, und wachten
auf, wenn es im Hausflur nach Speck und Zwiebeln roch. Es war eine lähmende
Ruhe, die sie einholte. Lange Zeit lagen sie nebeneinander auf der Matratze,
betrachteten die Blautöne des Himmels und zählten die Wolken, die hinter der
Scheibe vorbeizogen. Zumindest er zählte sie. Nathaniel dagegen fand Geister
und Löwen und Heckenscheren in den Wolken, und er schob die Unterlippe vor,
wenn Ethan behauptete, nichts davon zu sehen. Sein Daumen strich Nathaniels Arm
entlang, bis die feinen Härchen dort standen und die Küsse, die sie teilten,
nachdrücklicher wurden. Manchmal schlang Nathaniel sein Bein unter seines,
rückte näher an ihn heran, bis die Hitze unter der Decke unerträglich wurde,
und einmal – es war der Samstag nach ihrem Einzug –, schob er sich auf ihn.
Ihre Körper rieben aneinander, vollständig bedeckt, in einem schüchternen,
unsicheren Rhythmus. Auf Nathaniels Wangen lag eine Spur Rosa. Sein Blick
flackerte zur Seite, zur Decke, an Ethans halb geöffnetem Hemd entlang. »Ich
…«, sagte er, und dann sagte er nichts mehr. Als er von seinem Schoß rutschen
wollte, hielt Ethan ihn zurück. »Schon gut. Bleib hier.« Ineinander
verschlungen verschliefen sie einen weiteren Nachmittag.
Als
Ethan aufwachte, fand er Nathaniel in der Küche. Er lehnte an der
Arbeitsplatte, direkt neben dem quadratischen Loch, in das ein Ceranfeld passen
sollte, und trank Filterkaffee aus einem Pappbecher. Sein Shirt war noch immer
hochgerutscht, als hätten Ethans Finger es eine Handbreit über seinem Gürtel
befestigt. Sonnenlicht kletterte über seine nackten Unterarme, weiter über den
Linoleumboden, eine Mülltüte, für die es noch keinen Eimer gab, und schließlich
bis zur Türschwelle.
»Es
gibt da etwas, das du nicht weißt«, sagte Nathaniel, ohne sich umzudrehen.
Ethan
legte von hinten die Arme um Nathaniels Hüften. »Wirst du es mir sagen?«
Ein
Kopfschütteln, dann ein Seufzen. Viele kleine Schlucke, als wollte er
verhindern, dass Worte seinen Mund verließen. Schließlich sagte er: »Erinnerst
du dich an die Party?«
Am Montag ging Nathaniel allein zum
Supermarkt. Zurück kam er nicht nur mit einer Tüte Brot, Dosenbohnen und
Butter, sondern auch mit einem Job. »Wir können nicht ewig hier drin
rumsitzen«, sagte er, während er ein Marmeladenglas in den Schrank räumte. Er
fuhr sich durch das Haar, beugte sich wieder hinab zu der Tüte zwischen seinen
Füßen und holte ein Paket Salz heraus. »Sie hatten eine Stelle ausgeschrieben,
also habe ich direkt vorgesprochen.«
»Danke«,
sagte Ethan.
Nathaniel
hielt inne, um zu lächeln. »Es wird alles gut, du wirst schon sehen.«
Den
Montag darauf ging er zum ersten Mal zu seiner neuen Arbeit.
Über Ivy hatten sie gesprochen, über
Tony und über Drogen. Über das Gefühl, das ihn befiel, sobald er nur daran
dachte, nackt mit ihm zu sein. Sie waren an ihren Platz unter den Wolken
zurückgekehrt, doch das letzte Abendlicht verbarg die Figuren, und das offene
Fenster raubte die Illusion der Abgeschiedenheit. Ständiges Motorensummen
verschluckte das ein oder andere Wort. Der Wind zupfte an der Decke, die über
ihren Beinen lag. Mit ihm kam der Geruch nach Abgasen, aber auch der von Leben
an einem warmen Frühlingstag. Nathaniel lag in Ethans Arm, das Gesicht an
seiner Brust vergraben.
»Ich
habe Tony einmal angerufen.« Er spielte mit den Hemdknöpfen neben seiner Nase.
»Im Pawn’s. Weißt du, was er gesagt hat?«
Ethan
deutete ein Kopfschütteln an.
»›Du
hättest dich anders nie entspannt‹, sagte er. ›Ich wollte doch nur, dass du
einmal im Leben Spaß hast, Mann.‹ Ich habe ihn gefragt, wieso Ivy dann Bescheid
wusste, und er hat gelacht. ›Das hast du dir eingebildet.‹ Aber … ich weiß,
dass das nicht stimmt. Sie wusste es. Ganz sicher.«
Er
fragte nicht nach, sondern küsste Nathaniels Haar.
»Sie
ist schwanger von ihm«, sagte er. »Glaubst du, sie haben es damals schon
miteinander gemacht?«
»Ist
das wichtig?«
Ein
Schulterzucken. »Vielleicht brauche ich einen Grund, um ihm nicht zu
verzeihen.«
»Dafür
hast du Grund genug.«
Nathaniel
schnaubte, dann drehte er den Kopf zur Seite, bis sein Gesicht im Hemdstoff
verschwand. Seine Finger lösten sich von den Knöpfen. Ein Schaudern durchfuhr
seinen Körper und hielt sich zwischen seinen Schultern, ließ sie zittern, bis
Ethan sicher war, dass er weinte. Sanft streichelte er ihn – eine Hand an
seinem Arm, die andere an seiner Wange, während er mit dem Daumen die Kuhle
seines Kiefers nachzeichnete.
Die
Wolken über ihnen nahmen die Farbe von Pfirsichen an.
Irgendwann
entschuldigte Nathaniel sich dafür, sein Hemd beschmutzt zu haben, und erhob
sich, um Kaffee zu kochen. Ethan strich über die nassen Stellen an seiner
Brust. Ein Hemdwechsel würde Nathaniel nur verlegener machen. Statt ihm zu
folgen, schloss er das Fenster und sperrte die Welt aus, die sich so
aufdringlich zwischen sie geschoben hatte, und zählte die Nägel, mit denen die
Fußleiste an der Wand befestigt war.
»Mum
mochte ihn«, sagte Nathaniel, als er mit zwei Pappbechern Kaffee zurückkehrte.
»Sie erinnerte sich nicht immer an seinen Namen, aber sie erkannte ihn, jedes
Mal, wenn er vor ihr stand.«
»Es
ist in Ordnung, ihn zu vermissen und ihm dennoch nicht zu vergeben.«
»Wie
machst du das?« Nathaniel drückte ihm einen Becher in die Hand. »Klebt ein
Zettel an meiner Stirn?«
Ethan
spürte sich lächeln. »Du denkst sehr viel.«
»Ach,
wirklich?«
Nathaniel
weinte noch viele Male in dieser Nacht. Es war, als hätten die ersten Tränen
einen Damm eingerissen, den er nun nicht mehr schnell genug aufbauen, nicht
halten konnte. Jedes Mal verbarg er sein Gesicht, hinter Händen, Knien oder an
Ethans Brust, und nur selten sprach er währenddessen. Erst, als es bereits
stockfinster war, flüsterte er: »Wäre ich an Weihnachten nur nach Hause
gefahren. Hätte ich gewusst, dass wir das letzte Mal sprechen …«
Ethan
umarmte ihn fest.
»Ich
habe ihr nicht mal mehr gesagt, dass ich sie liebe.«
»Das
wusste sie.«
»Wusste
sie das?«
»Natürlich
wusste sie das.« Er küsste sein Haar, seine Stirn und seine Wangen, und
schließlich küssten sie sich wieder wie am Morgen, viel zu energisch, um sanft
zu sein, als blieben ihnen nur ihre Lippen, um aneinander festzuhalten.
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