Donnerstag, 12. September 2024

[Schnipseltime] The Grimm Way - How to Play a Fairy Tale: Aschenputtels Tochter von Ava Cooper


 

Ich fluche leise, als ich mit dem Absatz über das Kopfsteinpflaster laufe und prompt zwischen zwei Steinen hängen bleibe. Warum mache ich den Quatsch nur mit und ziehe keine Sneakers an, so wie sonst? Aber nein, ich musste mich für Peeptoes entscheiden. Die mega aussehen – darin zu laufen, ist allerdings eine Qual. Bestimmt hat sich das ein Mann einfallen lassen. Komischerweise ist es kein Problem, damit zu tanzen. Ein Umstand, den ich nie verstehen werde.

Ich versuche, mein Gleichgewicht wiederzufinden, wobei ich zugeben muss, dass das vermutlich nicht nur an den hohen Schuhen liegt, sondern auch am Alkohol. Also wird es die Metro. Zielstrebig steuere ich die nächste Haltestelle an. Ich bemühe mich um einen ruhigen Gang, während ich an schicken Trend-Boutiquen, Restaurants und Bars vorbeilaufe. Ich liebe diesen Stadtteil.

Ein Geräusch hinter mir lässt mich aufhorchen. Es klingt nach leisen Schritten. Verfolgt mich jemand? Mein Herz setzt einen Moment aus und ich drehe mich um, doch es ist nur eine Nachtschwärmerin, so wie ich. Erleichtert gehe ich weiter. Aus dem Augenwinkel erblicke ich ein hippes Oberteil, das mir gut stehen könnte. Ich werde langsamer, um darauf zuzugehen, als auf einmal ein Sirren ertönt und ein tiefschwarzer Wirbel vor meinen Augen erscheint.

Panik schießt durch meinen Körper, pumpt Adrenalin durch meine Venen. Ich bleibe zitternd stehen. Mein Brustkorb scheint aus einem Schraubstock zu bestehen, der sich immer enger zudrückt und mir den Atem raubt. Was in Dreiteufelsnamen geschieht hier bloß? Der Strudel wächst innerhalb von Sekunden, bis er so hoch wie ich ist.

Plötzlich spuckt er etwas aus, das wie ein zusammengeknüllter Mensch aussieht, und erstirbt. Die Stille, die nun folgt, erschreckt mich nicht weniger als das Sirren zuvor. Sie strahlt eine aggressive Warnung aus. Die Härchen stellen sich an meinen Armen auf und mein Herz pocht wie ein Dampfkolben. Das menschenähnliche Ding, das aus dem Wirbel gekommen ist, richtet sich langsam auf – und ich keuche. Vor mir steht eine Bestie, die aus der Hölle selbst kommen muss. Sie hat eine Schnauze und Lefzen wie ein Raubtier, doch sie geht auf zwei Beinen. Kleine, rote Augen funkeln mich an und ich erkenne die Mordlust in ihnen.

Ich will schreien, weinen, wegrennen. Aber ich kann mich weder bewegen noch einen Ton herausbringen. Alle Muskeln in meinem Körper haben sich zusammengezogen, lähmen mich. Wie in einem entsetzlichen Albtraum. Nur, dass dies hier kein Traum ist, sondern die viel schrecklichere Realität.

Als ich leise stöhne, leuchtet in den Augen des Dings pure Gier auf. Es macht knurrend einen Satz auf mich zu. Nun endlich löst sich meine Erstarrung und ich brülle, so laut ich nur kann. Gleichzeitig taumele ich zurück, versuche, vor dem Ungeheuer zu fliehen. Doch es schnellt herum, treibt mich in die Enge zwischen den Häusern. Mit einer Mischung aus Triumph und Hunger starrt es mich aus bösen tiefroten Augen an. Wieder knurrt es gefährlich.

Mein Blick flackert und mein Herz pumpt. Ich suche nach einer Rettung, sehe allerdings nichts, wo ich mich vor diesem Vieh verstecken kann. Das ist immerhin ein verdammtes Monster! Und es will mich fressen. Mir wird eiskalt. Wimmernd will ich durch einen Ausfallschritt seinen Fängen entkommen. Aber ich taumele und falle lang hin. Das war es. Gleich wird das Biest seine grässlichen Fangzähne in mich schlagen. Tränen schütteln meinen ganzen Körper. Ich drehe mich um, versuche wegzukriechen. Doch es ist zu spät.

Das Monster heult bereits voller Triumph und setzt zum Sprung an. Ich weiß nicht, ob ich die Augen schließen oder zusehen soll, wie mich das Vieh als Mitternachtsimbiss verspeist. Tränen laufen über meine Wangen und ich liege wie gelähmt, unfähig, dem Unvermeidlichen zu entfliehen. Da erscheint mit einem metallischen Sirren ein weiterer Wirbel mitten in dem leeren Raum hinter mir und dem Monster.

Allerdings ist dieser im Gegensatz zu dem davor grellweiß. Auch dieser Strudel bringt etwas zum Vorschein. Mein Herz sackt in die Hose, weil ich befürchte, nun von zwei Bestien gleichzeitig angegriffen zu werden. Dieser Passagier ist jedoch eindeutig ein menschliches Wesen oder vielmehr ein Mann, auch wenn ich sein Gesicht nicht erkennen kann, weil mich der grelle Wirbel blendet. Aber die Silhouette ist humanoid. Ein zarter Anflug von Hoffnung glimmt in mir auf. Vielleicht kann dieser Unbekannte mir ja irgendwie helfen?

In seiner Hand taucht wie aus dem Nichts ein silbern schimmerndes Schwert auf und er sieht mich grimmig an. Ich keuche entsetzt. Also habe ich jetzt die Wahl dazwischen, von einer Bestie zerrissen zu werden oder von einer mittelalterlichen Waffe durchbohrt zu werden. Wobei mir Letzteres um einiges sympathischer ist, das geht wenigstens schnell.

Zu meiner Verwunderung – und riesengroßen Erleichterung – dreht sich der Mann zu der Bestie herum. Er attackiert sie wuchtig mit dem leuchtenden Schwert. Das Vieh heult, als es getroffen wird, gibt sein Ziel jedoch nicht auf. Stattdessen lässt es sich auf alle viere herunter. Es macht einen gewaltigen Satz auf mich zu. Dabei reißt es das entsetzlich große Gebiss so weit auf, dass ich jeden Reißzahn sehen kann. Mein Magen verkrampft sich, Schweiß bricht überall in mir aus, als mir der faulige Atem entgegenweht. Ich glaube bereits, die ersten Zähne an meiner Kehle zu spüren.

Damit habe ich den Schwertkämpfer jedoch unterschätzt. Er wirbelt so schnell herum, dass ich mich frage, ob er irgendeine Superkraft hat. Schützend wirft er sich vor mich – und rammt dem Ungeheuer die Waffe direkt ins Herz, als es auf mich zugesprungen kommt. Die Bestie jault ohrenbetäubend laut. Ein silbernes Leuchten erfasst das Vieh und hüllt es einmal komplett ein. Als jeder Zipfel von der Schnauze bis zur Pranke schimmert, gibt es eine gewaltige Explosion und das Ungeheuer zerspringt. Ich erwarte schon, über und über mit Blut besudelt zu werden. Aber stattdessen rieselt nur silberner Staub auf uns hernieder.

»Diese Seelenbestie wird niemanden mehr behelligen«, sagt mein geheimnisvoller Retter.

Ich erstarre, als ich diese Stimme höre. Diesen Klang kenne ich irgendwoher, da bin ich mir ganz sicher. Aber woher nur? In meinem Bekanntenkreis gibt es keine Männer mittleren Alters, die mit dem Schwert umgehen können wie ein Gladiator. Außerdem kommt mir das Gesicht fremd vor, obwohl es etwas in mir zum Klingen bringt. Ist der Mann vielleicht ein Freund von Mama, den ich nur ein- oder zweimal gesehen habe? Das wäre eine Möglichkeit, doch die Stimme lässt mich verrückterweise an meine Kindheit denken. Langsam stehe ich auf und starre ihm ins Gesicht.

Der Mann lächelt liebevoll.

»Hallo, Krümelchen.«

Ich keuche, spüre gleichzeitig ein Gefühl der Wärme und völliges Chaos. So hat mich nur ein Mensch genannt. Mein Vater. Damit hat er mich immer geneckt, weil ich so viele Dinge beim Essen verstreut habe. Das kann nicht sein.

Er ist bei einem Unfall gestorben, zusammen mit meiner Zwillingsschwester Isabel. Beinahe vergessene Erinnerungen an absolute Verbundenheit wabern durch mein Unterbewusstsein. Wir waren eins. Die Liebe, die so lange verschüttet war, überflutet mich wieder – und mit ihr der vertraute Kummer. Auch nach siebzehn Jahren sind beide Gefühle noch da. Wie ein Fleck, den man übermalt, aber nicht beseitigt hat.

Ich schluchze erstickt auf und schüttele den Kopf. Nein, das kann nicht sein. Sicher war etwas in dem Sekt, das mich halluzinieren lässt. Dieses Ungeheuer muss ja auch Einbildung gewesen sein, obwohl es mir verdammt real vorkam.

»W... wer sind Sie? Woher kennen Sie diesen Kosenamen?«

Der Mann seufzt und macht einen Schritt auf mich zu. Die Liebe in seinem Blick wärmt mich und weckt weitere Erinnerungen. »Krümelchen, du weißt ganz genau, wer ich bin.«

Er muss verrückt sein. Ich muss verrückt sein. Das alles kann nicht wahr sein. Der Fremde zieht mich an sich, um mich zu umarmen. Papas vertrauter Geruch umfängt mich. Er riecht frisch und ein wenig holzig, wie die Wälder, in denen wir so gern spazieren gegangen sind. Glücklich schmiege ich mich an ihn, inhaliere diesen Duft, der mich an die schönste Zeit meines Lebens erinnert. Damals, als wir noch zu viert waren. Das ist tatsächlich mein Vater! Meine Kehle wird eng und ich schlucke krampfhaft, um nicht loszuheulen.

»Gott, wie habe ich dich vermisst!«, sagt er leise.

Sofort brechen all meine Dämme. »Papa!« Schluchzend drücke ich mich an seine Brust. Ich begreife zwar nicht, wie das möglich ist, aber für diesen einen Moment will ich seine Nähe genießen und nichts hinterfragen.

Er zieht mich ganz fest an sich und ich spüre, wie es nass auf meine Wangen tropft. Wir umarmen uns schweigend, leise Tränen der Freude vergießend. Langsam begreift mein Herz, dass dies tatsächlich Realität ist. Mein Vater lebt!

»Es ist so schön, dich zu sehen.« Er seufzt und zieht mich noch enger an sich. »Es war schrecklich, dich gehen lassen zu müssen.«

Wieso gehen lassen? Er ist doch aus meinem Leben entschwunden. Oder ist er nur ein Trugbild? Vielleicht träume ich das alles nur. Aber wie kann er dann einen Körper besitzen? Ich löse mich von ihm, strecke die Hand aus und drücke ihn. Ich kneife erneut zu. Noch fester diesmal. Das ist alles echt – seine Haut, sein Fleisch, seine Wärme.

Ebenso wie sein schmerzverzerrtes Gesicht. »Ashley, ich verstehe, dass du dich wunderst. Ich wäre dir jedoch verbunden, wenn du nicht ganz so fest zupackst.«

Sofort nehme ich die Hand weg und starre ihn ungläubig an. »Du ... bist real. Wie ... wie kann das sein? Der ... Unfall? Isabel und du ... ihr seid doch ...«

»Was das angeht, waren wir nicht ganz ehrlich zu dir.« Papas Lächeln erstirbt. Er atmet einmal hörbar aus. »Es gab keinen Unfall. Deine Mutter und ich ... Nun, wir haben uns in Wirklichkeit getrennt.«

Ungläubig schüttele ich den Kopf. »Das ist nicht möglich! Ich erinnere mich genau daran. An das schreckliche Krachen, als der andere Wagen in uns gefahren ist.« Erneut spüre ich das Entsetzen jenes Tages, als unser Glück zu viert von einer Sekunde auf die nächste zerstört worden war. Wir waren auf dem Rückweg vom Zoo gewesen und hatten alle gute Laune. Aus dem Augenwinkel sah ich einen Wagen, der auf uns zuraste. Er krachte mit vollem Speed in die Beifahrerseite. Papa und Isabel waren angeblich sofort tot. Was offensichtlich gelogen war. Immerhin steht er ja vor mir.

Sein Lächeln wird noch verlegener, obwohl ich dachte, das sei nicht möglich. »Die Erinnerungen sind nicht echt. Sie wurden euch von einer Realitätsgestalterin eingepflanzt.«

»Einer bitte was?«

»Eine Realitätsgestalterin. So nennen wir Feen, die bei Menschen aus der NMR die Erlebnisse unserer Welt löschen, wenn sie bei uns waren. Wobei das normalerweise Kinder sind.« Er sagt das so, als wäre damit alles erklärt.

Meine Gedanken rasen und ich verstehe gar nichts mehr. Was redet er da von anderen Welten? Von Feen, die etwas im Kopf verändern? NMR? Das kann er unmöglich ernst meinen. Das gibt es nicht. Oder doch? Denn eins ist klar: Mein Vater ist quicklebendig. Hoffnung erfasst mich und mein Herz klopft schneller. Wenn Papa nicht gestorben ist, dann heißt das  ... »Also lebt Isabel auch noch?«

Traurig schüttelt er den Kopf. »Dieses Ding, das dich angegriffen hat ... Es ... es hat sich vor ein paar Tagen auf Isabel gestürzt. Ihr Körper ist auf dieser Welt, aber ihr Geist ... Er weilt an einem anderen Ort.« Seine Gestalt scheint regelrecht in sich zusammenzusacken, Tränen glitzern in seinen Augen. »Es tut mir unfassbar leid, mein Krümelchen.«

Also ist sie für mich verloren. Meine Zwillingsschwester ist nur noch eine leblose Hülle, der Geist irgendwo gefangen. Lebt sie überhaupt noch? Obwohl ich schon vor so vielen Jahren um sie getrauert habe, umspült mich eine grausame Welle der Traurigkeit und ich beginne zu schluchzen.

Papa streicht mir mit beiden Händen über die Arme. Die Berührung tröstet mich ein wenig.

»Vielleicht findet der Rat einen Weg, sie zurückzuholen«, sagt er leise. »Nun sollten wir uns auf den Weg zu deiner Mutter machen. Wer weiß, wann diese Bestien wiederkommen. Daher muss ich dringend mit Cindy sprechen, damit sie dir erlaubt, mit mir ins Märchenreich zu gehen.«

»Äh ... bitte was?« Mit offenem Mund starre ich ihn an. Was hat er da eben gesagt? Das ist doch absurd. Ich muss das falsch verstanden haben. »W... wohin willst du mit mir?«

»Ins Mär-chen-reich«, wiederholt Papa, wobei er jede einzelne Silbe langsam und überdeutlich ausspricht. »Das ist deine wahre Heimat. Allerdings haben die Realitätsgestalterinnen dir ganz neue Erinnerungen an die ersten vier Jahre eingepflanzt. Das war eine unfassbare Arbeit.« Er schüttelt den Kopf und legt mir eine Hand auf die Schulter. Ernst sieht er mir in die Augen. »Glaub mir eins, Krümelchen: Du bist nicht in New York geboren, sondern im Märchenreich.«

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