Ich fluche leise,
als ich mit dem Absatz über das Kopfsteinpflaster laufe und prompt zwischen
zwei Steinen hängen bleibe. Warum mache ich den Quatsch nur mit und ziehe keine
Sneakers an, so wie sonst? Aber nein, ich musste mich für Peeptoes entscheiden.
Die mega aussehen – darin zu laufen, ist allerdings eine Qual. Bestimmt hat
sich das ein Mann einfallen lassen. Komischerweise ist es kein Problem, damit
zu tanzen. Ein Umstand, den ich nie verstehen werde.
Ich versuche,
mein Gleichgewicht wiederzufinden, wobei ich zugeben muss, dass das vermutlich
nicht nur an den hohen Schuhen liegt, sondern auch am Alkohol. Also wird es die
Metro. Zielstrebig steuere ich die nächste Haltestelle an. Ich bemühe mich um
einen ruhigen Gang, während ich an schicken Trend-Boutiquen, Restaurants und
Bars vorbeilaufe. Ich liebe diesen Stadtteil.
Ein Geräusch
hinter mir lässt mich aufhorchen. Es klingt nach leisen Schritten. Verfolgt
mich jemand? Mein Herz setzt einen Moment aus und ich drehe mich um, doch es
ist nur eine Nachtschwärmerin, so wie ich. Erleichtert gehe ich weiter. Aus dem
Augenwinkel erblicke ich ein hippes Oberteil, das mir gut stehen könnte. Ich
werde langsamer, um darauf zuzugehen, als auf einmal ein Sirren ertönt und ein
tiefschwarzer Wirbel vor meinen Augen erscheint.
Panik schießt
durch meinen Körper, pumpt Adrenalin durch meine Venen. Ich bleibe zitternd
stehen. Mein Brustkorb scheint aus einem Schraubstock zu bestehen, der sich
immer enger zudrückt und mir den Atem raubt. Was in Dreiteufelsnamen geschieht
hier bloß? Der Strudel wächst innerhalb von Sekunden, bis er so hoch wie ich
ist.
Plötzlich spuckt
er etwas aus, das wie ein zusammengeknüllter Mensch aussieht, und erstirbt. Die
Stille, die nun folgt, erschreckt mich nicht weniger als das Sirren zuvor. Sie
strahlt eine aggressive Warnung aus. Die Härchen stellen sich an meinen Armen
auf und mein Herz pocht wie ein Dampfkolben. Das menschenähnliche Ding, das aus
dem Wirbel gekommen ist, richtet sich langsam auf – und ich keuche. Vor mir
steht eine Bestie, die aus der Hölle selbst kommen muss. Sie hat eine Schnauze
und Lefzen wie ein Raubtier, doch sie geht auf zwei Beinen. Kleine, rote Augen
funkeln mich an und ich erkenne die Mordlust in ihnen.
Ich will
schreien, weinen, wegrennen. Aber ich kann mich weder bewegen noch einen Ton
herausbringen. Alle Muskeln in meinem Körper haben sich zusammengezogen, lähmen
mich. Wie in einem entsetzlichen Albtraum. Nur, dass dies hier kein Traum ist,
sondern die viel schrecklichere Realität.
Als ich leise
stöhne, leuchtet in den Augen des Dings pure Gier auf. Es macht knurrend einen
Satz auf mich zu. Nun endlich löst sich meine Erstarrung und ich brülle, so
laut ich nur kann. Gleichzeitig taumele ich zurück, versuche, vor dem Ungeheuer
zu fliehen. Doch es schnellt herum, treibt mich in die Enge zwischen den
Häusern. Mit einer Mischung aus Triumph und Hunger starrt es mich aus bösen
tiefroten Augen an. Wieder knurrt es gefährlich.
Mein Blick
flackert und mein Herz pumpt. Ich suche nach einer Rettung, sehe allerdings
nichts, wo ich mich vor diesem Vieh verstecken kann. Das ist immerhin ein
verdammtes Monster! Und es will mich fressen. Mir wird eiskalt. Wimmernd will
ich durch einen Ausfallschritt seinen Fängen entkommen. Aber ich taumele und
falle lang hin. Das war es. Gleich wird das Biest seine grässlichen Fangzähne
in mich schlagen. Tränen schütteln meinen ganzen Körper. Ich drehe mich um,
versuche wegzukriechen. Doch es ist zu spät.
Das Monster heult
bereits voller Triumph und setzt zum Sprung an. Ich weiß nicht, ob ich die
Augen schließen oder zusehen soll, wie mich das Vieh als Mitternachtsimbiss
verspeist. Tränen laufen über meine Wangen und ich liege wie gelähmt, unfähig,
dem Unvermeidlichen zu entfliehen. Da erscheint mit einem metallischen Sirren
ein weiterer Wirbel mitten in dem leeren Raum hinter mir und dem Monster.
Allerdings ist
dieser im Gegensatz zu dem davor grellweiß. Auch dieser Strudel bringt etwas
zum Vorschein. Mein Herz sackt in die Hose, weil ich befürchte, nun von zwei
Bestien gleichzeitig angegriffen zu werden. Dieser Passagier ist jedoch
eindeutig ein menschliches Wesen oder vielmehr ein Mann, auch wenn ich sein
Gesicht nicht erkennen kann, weil mich der grelle Wirbel blendet. Aber die
Silhouette ist humanoid. Ein zarter Anflug von Hoffnung glimmt in mir auf.
Vielleicht kann dieser Unbekannte mir ja irgendwie helfen?
In seiner Hand
taucht wie aus dem Nichts ein silbern schimmerndes Schwert auf und er sieht
mich grimmig an. Ich keuche entsetzt. Also habe ich jetzt die Wahl dazwischen,
von einer Bestie zerrissen zu werden oder von einer mittelalterlichen Waffe
durchbohrt zu werden. Wobei mir Letzteres um einiges sympathischer ist, das
geht wenigstens schnell.
Zu meiner
Verwunderung – und riesengroßen Erleichterung – dreht sich der Mann zu der
Bestie herum. Er attackiert sie wuchtig mit dem leuchtenden Schwert. Das Vieh
heult, als es getroffen wird, gibt sein Ziel jedoch nicht auf. Stattdessen
lässt es sich auf alle viere herunter. Es macht einen gewaltigen Satz auf mich
zu. Dabei reißt es das entsetzlich große Gebiss so weit auf, dass ich jeden
Reißzahn sehen kann. Mein Magen verkrampft sich, Schweiß bricht überall in mir
aus, als mir der faulige Atem entgegenweht. Ich glaube bereits, die ersten
Zähne an meiner Kehle zu spüren.
Damit habe ich
den Schwertkämpfer jedoch unterschätzt. Er wirbelt so schnell herum, dass ich
mich frage, ob er irgendeine Superkraft hat. Schützend wirft er sich vor mich –
und rammt dem Ungeheuer die Waffe direkt ins Herz, als es auf mich zugesprungen
kommt. Die Bestie jault ohrenbetäubend laut. Ein silbernes Leuchten erfasst das
Vieh und hüllt es einmal komplett ein. Als jeder Zipfel von der Schnauze bis
zur Pranke schimmert, gibt es eine gewaltige Explosion und das Ungeheuer
zerspringt. Ich erwarte schon, über und über mit Blut besudelt zu werden. Aber
stattdessen rieselt nur silberner Staub auf uns hernieder.
»Diese
Seelenbestie wird niemanden mehr behelligen«, sagt mein geheimnisvoller Retter.
Ich erstarre, als
ich diese Stimme höre. Diesen Klang kenne ich irgendwoher, da bin ich mir ganz
sicher. Aber woher nur? In meinem Bekanntenkreis gibt es keine Männer mittleren
Alters, die mit dem Schwert umgehen können wie ein Gladiator. Außerdem kommt mir
das Gesicht fremd vor, obwohl es etwas in mir zum Klingen bringt. Ist der Mann
vielleicht ein Freund von Mama, den ich nur ein- oder zweimal gesehen habe? Das
wäre eine Möglichkeit, doch die Stimme lässt mich verrückterweise an meine
Kindheit denken. Langsam stehe ich auf und starre ihm ins Gesicht.
Der Mann lächelt
liebevoll.
»Hallo,
Krümelchen.«
Ich keuche, spüre
gleichzeitig ein Gefühl der Wärme und völliges Chaos. So hat mich nur ein
Mensch genannt. Mein Vater. Damit hat er mich immer geneckt, weil ich so viele
Dinge beim Essen verstreut habe. Das kann nicht sein.
Er ist bei einem
Unfall gestorben, zusammen mit meiner Zwillingsschwester Isabel. Beinahe
vergessene Erinnerungen an absolute Verbundenheit wabern durch mein
Unterbewusstsein. Wir waren eins. Die Liebe, die so lange verschüttet war,
überflutet mich wieder – und mit ihr der vertraute Kummer. Auch nach siebzehn
Jahren sind beide Gefühle noch da. Wie ein Fleck, den man übermalt, aber nicht
beseitigt hat.
Ich schluchze
erstickt auf und schüttele den Kopf. Nein, das kann nicht sein. Sicher war
etwas in dem Sekt, das mich halluzinieren lässt. Dieses Ungeheuer muss ja auch
Einbildung gewesen sein, obwohl es mir verdammt real vorkam.
»W... wer sind
Sie? Woher kennen Sie diesen Kosenamen?«
Der Mann seufzt
und macht einen Schritt auf mich zu. Die Liebe in seinem Blick wärmt mich und
weckt weitere Erinnerungen. »Krümelchen, du weißt ganz genau, wer ich bin.«
Er muss verrückt
sein. Ich muss verrückt sein. Das alles kann nicht wahr sein. Der Fremde zieht
mich an sich, um mich zu umarmen. Papas vertrauter Geruch umfängt mich. Er
riecht frisch und ein wenig holzig, wie die Wälder, in denen wir so gern
spazieren gegangen sind. Glücklich schmiege ich mich an ihn, inhaliere diesen
Duft, der mich an die schönste Zeit meines Lebens erinnert. Damals, als wir
noch zu viert waren. Das ist tatsächlich mein Vater! Meine Kehle wird eng und
ich schlucke krampfhaft, um nicht loszuheulen.
»Gott, wie habe
ich dich vermisst!«, sagt er leise.
Sofort brechen
all meine Dämme. »Papa!« Schluchzend drücke ich mich an seine Brust. Ich
begreife zwar nicht, wie das möglich ist, aber für diesen einen Moment will ich
seine Nähe genießen und nichts hinterfragen.
Er zieht mich
ganz fest an sich und ich spüre, wie es nass auf meine Wangen tropft. Wir
umarmen uns schweigend, leise Tränen der Freude vergießend. Langsam begreift
mein Herz, dass dies tatsächlich Realität ist. Mein Vater lebt!
»Es ist so schön,
dich zu sehen.« Er seufzt und zieht mich noch enger an sich. »Es war
schrecklich, dich gehen lassen zu müssen.«
Wieso gehen
lassen? Er ist doch aus meinem Leben entschwunden. Oder ist er nur ein
Trugbild? Vielleicht träume ich das alles nur. Aber wie kann er dann einen
Körper besitzen? Ich löse mich von ihm, strecke die Hand aus und drücke ihn.
Ich kneife erneut zu. Noch fester diesmal. Das ist alles echt – seine Haut,
sein Fleisch, seine Wärme.
Ebenso wie sein
schmerzverzerrtes Gesicht. »Ashley, ich verstehe, dass du dich wunderst. Ich
wäre dir jedoch verbunden, wenn du nicht ganz so fest zupackst.«
Sofort nehme ich
die Hand weg und starre ihn ungläubig an. »Du ... bist real. Wie ... wie kann
das sein? Der ... Unfall? Isabel und du ... ihr seid doch ...«
»Was das angeht,
waren wir nicht ganz ehrlich zu dir.« Papas Lächeln erstirbt. Er atmet einmal
hörbar aus. »Es gab keinen Unfall. Deine Mutter und ich ... Nun, wir haben uns
in Wirklichkeit getrennt.«
Ungläubig
schüttele ich den Kopf. »Das ist nicht möglich! Ich erinnere mich genau daran.
An das schreckliche Krachen, als der andere Wagen in uns gefahren ist.« Erneut
spüre ich das Entsetzen jenes Tages, als unser Glück zu viert von einer Sekunde
auf die nächste zerstört worden war. Wir waren auf dem Rückweg vom Zoo gewesen
und hatten alle gute Laune. Aus dem Augenwinkel sah ich einen Wagen, der auf
uns zuraste. Er krachte mit vollem Speed in die Beifahrerseite. Papa und Isabel
waren angeblich sofort tot. Was offensichtlich gelogen war. Immerhin steht er
ja vor mir.
Sein Lächeln wird
noch verlegener, obwohl ich dachte, das sei nicht möglich. »Die Erinnerungen
sind nicht echt. Sie wurden euch von einer Realitätsgestalterin eingepflanzt.«
»Einer bitte
was?«
»Eine
Realitätsgestalterin. So nennen wir Feen, die bei Menschen aus der NMR die
Erlebnisse unserer Welt löschen, wenn sie bei uns waren. Wobei das
normalerweise Kinder sind.« Er sagt das so, als wäre damit alles erklärt.
Meine Gedanken
rasen und ich verstehe gar nichts mehr. Was redet er da von anderen Welten? Von
Feen, die etwas im Kopf verändern? NMR? Das kann er unmöglich ernst meinen. Das
gibt es nicht. Oder doch? Denn eins ist klar: Mein Vater ist quicklebendig. Hoffnung
erfasst mich und mein Herz klopft schneller. Wenn Papa nicht gestorben ist,
dann heißt das ... »Also lebt Isabel
auch noch?«
Traurig schüttelt
er den Kopf. »Dieses Ding, das dich angegriffen hat ... Es ... es hat sich vor
ein paar Tagen auf Isabel gestürzt. Ihr Körper ist auf dieser Welt, aber ihr
Geist ... Er weilt an einem anderen Ort.« Seine Gestalt scheint regelrecht in
sich zusammenzusacken, Tränen glitzern in seinen Augen. »Es tut mir unfassbar
leid, mein Krümelchen.«
Also ist sie für
mich verloren. Meine Zwillingsschwester ist nur noch eine leblose Hülle, der
Geist irgendwo gefangen. Lebt sie überhaupt noch? Obwohl ich schon vor so
vielen Jahren um sie getrauert habe, umspült mich eine grausame Welle der
Traurigkeit und ich beginne zu schluchzen.
Papa streicht mir
mit beiden Händen über die Arme. Die Berührung tröstet mich ein wenig.
»Vielleicht
findet der Rat einen Weg, sie zurückzuholen«, sagt er leise. »Nun sollten wir
uns auf den Weg zu deiner Mutter machen. Wer weiß, wann diese Bestien
wiederkommen. Daher muss ich dringend mit Cindy sprechen, damit sie dir
erlaubt, mit mir ins Märchenreich zu gehen.«
Ȁh ... bitte
was?« Mit offenem Mund starre ich ihn an. Was hat er da eben gesagt? Das ist
doch absurd. Ich muss das falsch verstanden haben. »W... wohin willst du mit
mir?«
»Ins Mär-chen-reich«,
wiederholt Papa, wobei er jede einzelne Silbe langsam und überdeutlich
ausspricht. »Das ist deine wahre Heimat. Allerdings haben die
Realitätsgestalterinnen dir ganz neue Erinnerungen an die ersten vier Jahre
eingepflanzt. Das war eine unfassbare Arbeit.« Er schüttelt den Kopf und legt
mir eine Hand auf die Schulter. Ernst sieht er mir in die Augen. »Glaub mir
eins, Krümelchen: Du bist nicht in New York geboren, sondern im Märchenreich.«
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