„Mânil – einfach nur der Anfang“
(Desiderius M. Rainbow)
2 XXL-Schnipsel
Schnipsel 1:
Mânil
…„Wie
hast du das gemacht?“, fragte er unwillig.
Es
gefiel ihm nicht, dass er nicht sofort herausfinden konnte, was ich gemacht
hatte und vor allem, dass es nicht einfach so rückgängig zu machen war. Ich
überlegte, ob ich einlenken und es ihm um des lieben Friedens willen erzählen
sollte, und antwortete: „Weißt du, ich schätze, dass dies einer dieser
mysteriösen Zauber ist, die jeder Nichtzauberstabbenutzer für sich selbst
finden muss.“
Sein
Gesichtsausdruck sagte mir, dass ich diese Bemerkung noch bereuen würde, aber
vorerst ging er nicht darauf ein.
Schulterzuckend
setzte er sich auf einen der beiden Sessel und sah sich um.
„Amadeus
hat mich ja gewarnt, dass es schlimm ist. Er hat mir jedoch nicht erzählt, WIE
schlimm es ist“, kommentierte er die Raumumgestaltung trocken.
„Du
hast gesagt, dass ich die Wände streichen darf.“
„Mir
war nicht klar, dass du planst, mein Haus zu verunstalten und deine
unschuldigen Besucher mit Augenkrebs zu strafen“, sagte er, ohne die Miene zu
verziehen.
Ich
kicherte und fragte: „Ich nehme nicht an, dass du mich nur deshalb mit deiner
Anwesenheit beehrst, um meinen exquisiten Farbgeschmack zu loben.“
„Ach,
Geschmack nennst du das? Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass ich
gefoltert werden soll. Eigentlich will ich mit dir über eine andere Sache
sprechen, von der ich denke, dass du sie wissen solltest. Nicht, dass du mir
wieder vorwirfst, ich hätte dich nicht gewarnt.“
„Was
sind denn das für Anwandlungen? Ist alles okay bei dir? Du bist doch sonst auch
eher der Geheimnisträger“, erkundigte ich mich spöttisch.
„Sei
still“, befahl er und wedelte genervt mit der Hand, als wäre ich ein lästiges
Insekt.
Ich
wollte etwas erwidern, stellte jedoch entsetzt fest, dass plötzlich keine Töne
mehr aus meinem Mund kamen. Mit einem leichten Anflug von Panik fasste ich nach
meinem Hals und versuchte nach Kräften zu sprechen, zu schreien, doch brachte
ich nicht mehr den leisesten Ton zustande.
Genießerisch
lehnte Suketo sich in seinem Sessel zurück und schwärmte: „Endlich Stille! So
gefällst du mir deutlich besser.“
Er
beobachtete noch einen Moment amüsiert meine verzweifelten Versuche, meine
Stimme wieder zu finden, bis er sagte: „Beruhige dich, ich hab dich nur
vorübergehend leise gestellt. Der Zauber lässt sich jederzeit rückstandslos
wieder entfernen. Also entspann dich.“
Peinlich
berührt versuchte ich durchzuatmen und meine Versuche zu sprechen einzustellen,
um wieder etwas gelassener zu wirken.
Wo
kamen wir denn hin, wenn ich Suketo so offensichtlich demonstrierte, dass er
einen Schwachpunkt gefunden hatte? Leider war es zu spät, meine spontane
panische Reaktion rückgängig zu machen, aber er sollte bloß nicht denken, dass
es doch etwas gab, womit ich auf Dauer nicht klarkam! Man konnte schließlich
alles Mögliche mit mir anstellen; ich stand immer wieder auf und hatte meist
sogar noch irgendwelche überflüssigen Bemerkungen parat, die die Situation
nicht selten noch verschlimmerten; aber von meiner Stimme ließ man gefälligst
die Finger!
Suketo
Warum
war mir der Schweigezauber nicht schon viel früher eingefallen? Es machte eine
Unterhaltung mit Mânil so viel einfacher und angenehmer und der Spaßfaktor war
für mich ebenfalls deutlich höher. Offensichtlich hatte ich ihm damit
tatsächlich einen gehörigen Schrecken eingejagt. Nachdem ich ihm jedoch
erläutert hatte, was ich getan hatte, benötigte er bemerkenswert wenig Zeit, um
sich zu beruhigen und sich auf die neue Situation einzustellen.
Ich
gab es nur ungern zu, aber wenn er etwas wirklich gut konnte, dann war es
Einstecken. Das war auch ganz gut und würde ihm vermutlich sehr helfen, wenn er
hierzubleiben gedachte. Bei seiner großen Klappe war das eine Fähigkeit, die er
dringend benötigte.
Außerdem
hatte ich neulich festgestellt, dass ich ihn nicht so dringend loswerden
wollte, wie ich gedacht hatte. Als er diesen gelben Raum verlassen hatte, mit
der Ankündigung, nicht wiederzukommen, hatte ich vergeblich auf das
erleichterte Gefühl gewartet. Nun hatte ich den Salat: Er war immer noch da.
Ich hatte ihn kein Stück lieber als vorher, aber seine Magie faszinierte mich.
Es gab bei ihm stets nur dieses Entweder-Oder: entweder er versagte auf ganzer
Linie oder er tat Dinge, die selbst mich gegen meinen Willen beeindruckten. Und
diese Dinge machte er anscheinend auch noch ohne jeden Plan.
Da
waren zum Beispiel die magischen Türen. Sie waren voller Absicht so konzipiert,
dass es nicht möglich war, sie zu verriegeln. Sie stellten praktische
Abkürzungen oder auch zuverlässige Fluchtwege dar - oder die Möglichkeit,
unbeherrschte Zauberer im Auge zu behalten. Man verwendete magische Türen genau
aus dem Grund – weil man sie nicht verschließen konnte. Und dann kam dieser
völlig unbedarfte und undisziplinierte Grünschnabel daher und schloss seine
Türen ab, ohne dabei zu bemerken, was er da eigentlich getan hatte. Er dachte
vermutlich, diese Türen seien lediglich eine meiner zahlreichen Macken.
Gleichzeitig war er jedoch völlig damit überfordert, eine simple Kerze
anzuzünden. Ich fand es ziemlich mutig, wenn auch reichlich leichtsinnig, dass
er das trotzdem in seinem Zimmer übte. Mir war jedoch auch bereits aufgefallen,
dass ihm Zauber, die die Elemente beeinflussten, generell nicht gelangen. Ihn
blockierte noch immer der Vorfall am Strand, den er noch nicht so recht
verarbeitet hatte. Ich würde mir für dieses Problem mal etwas überlegen müssen.
„Habe
ich deine ungeteilte Aufmerksamkeit?“, fragte ich süffisant. Mittlerweile
völlig entspannt lehnte er sich in seinem Sofa zurück, verschränkte die Arme
vor der Brust, legte den Kopf schräg und sah mich fragend an.
„Die
Sache ist die“, begann ich. „Wer magische Kräfte besitzt, bemerkt das für
gewöhnlich zwischen dem zehnten und zwanzigsten Lebensjahr. Statistisch machen
sich die jeweiligen Fähigkeiten umso später bemerkbar, um so stärker sie sind.
Das ist gut so, denn wenn sie sich zeigen, bevor der betreffende Pherrak’ta
ausgewachsen ist, hemmen sie das Wachstum.“
Ich
sah seinem Blick an, dass er wusste, worauf ich hinauswollte und er wirkte
nicht begeistert, was ich ihm nicht verübeln konnte. Er war klein, schmal, dünn
und blass. Auch die vielen Stunden, die er im Sommer trotz seines Heuschnupfens
draußen in der Sonne verbracht hatte, hatten seiner bleichen Haut nichts
anhaben können.
„Was
ich damit sagen will,“ fuhr ich fort, „ist, dass du offensichtlich ganz enorme
Kräfte in dir trägst und ob du nun lernst, sie zu beherrschen oder nicht – die
Wahrscheinlichkeit ist groß, dass du... nun ja, ein ‚Nachtschattengewächs‘
bleiben wirst.“
‚Na
super‘ sagte sein spöttischer Blick und ich erklärte: „Auch wenn deine
körperliche Entwicklung wahrscheinlich etwas auf der Strecke bleiben wird,
fließt all deine Kraft in die Entwicklung deiner Magie und deiner Psyche, damit
du mit deinen Kräften fertig wirst.“
Er
nahm einen Block und einen Stift vom Tisch, kritzelte grinsend etwas darauf und
reichte mir den Block.
'Da
bin ich aber froh, dass meine edelsten Teile sich zu meiner vollen
Zufriedenheit entwickelt haben, bevor ich mich versehentlich verwandelt habe!'
„Na,
wenn das deine größte Sorge ist...“, erwiderte ich und er hob eine Augenbraue
ob meiner Wortwahl.
Er
dachte kurz nach und schrieb:
'Du
kannst dir die Chuncasgaldaprüfung aus dem Kopf schlagen. Die lachen dich aus
und sagen dir, dass sie keine Kinder zulassen. Hab gelesen, man muss mindestens
neunzehn sein.'
Als
ich die neue Botschaft las, lachte er, natürlich völlig geräuschlos. Ich fand
es etwas irritierend, wie rasch er sich damit arrangiert hatte, nichts sagen zu
können, besonders, wenn ich bedachte, wie es ihn im ersten Moment - also noch
vor ein paar Minuten – in Panik versetzt hatte.
„Wir
sagen, du bist ein Mädchen, dann geht das mit der Größe in Ordnung“, erwiderte
ich ungerührt.
'Ist
´n Plan. Wann krieg ich meine Stimme zurück?'
schrieb
er dann und sah mich fragend an.
„So
ich den Zauber nicht aufhebe, sollte er sich in maximal zehn Stunden auflösen.
Und nein, ich habe nicht vor, ihn rückgängig zu machen. Du bist auf diese Weise
eine viel angenehmere Gesellschaft.“
'Is’
gut. Bringst du ihn mir bei?'
las
ich dann. Hätte ich voller Vorfreude auf Protest gewartet, wäre ich vermutlich
etwas enttäuscht gewesen...
„Ich
denke nicht im Traum dran!“, antwortete ich lachend.
Er
zuckte mit den Schultern und schrieb:
'Okay,
ich verrate dir ja auch nicht, was ich mit deinen Türen angestellt habe.'
Ich
verdrehte nur die Augen und sagte: „Du glaubst nicht wirklich, dass ich das
nicht herausfinden könnte, wenn ich dringend wollte, oder? Dies ist schließlich
mein Haus.“
Damit
stand ich auf und ging zur Tür. Einer spontanen Idee folgend drehte ich mich
dort noch mal um und sagte: „Ach ja, in einer Stunde habt ihr Zauberstabpflege
und -anwendung; komm bitte pünktlich.“
Laut
Stundenplan war das tatsächlich als Nächstes dran und im Augenblick gingen wir
einfache, kleine Zauber durch, die das Aufsagen von Formeln beinhalteten. Und
ja, das war gemein und auch, dass ich ihn mit der Schweigemagie vor meinen
anderen Solekorek total vorführte, war völlig beabsichtigt und ich habe nicht
den Hauch einer Entschuldigung dafür.
Mânil
verdrehte ebenfalls die Augen und streckte mir freimütig die Zunge heraus.
„Es
gibt noch andere interessante Arten von Schweigemagie, z.B. einen Knebelzauber,
der die Mundhöhle und den Unterkiefer betäubt und zu unkontrolliertem
Speichelfluss führt. Wusstest du das?“, sagte ich und schenkte ihm mein
diabolischstes Lächeln, woraufhin sein penetrantes Grinsen wenigstens etwas
verrutschte.
„Du
solltest übrigens versuchen, heute niemandem über den Weg zu laufen, der sich
daran erfreuen könnte, dass du zurzeit eher schweigsam bist. Nur als gut
gemeinter Rat.“
Damit
verließ ich den Raum, um noch die letzten Unterrichtsvorbereitungen zu treffen.
Auf dem Weg zu den Unterrichtsräumen fragte ich mich, ob ich mir tatsächlich
für nichts zu schade war, um zu verhindern, dass ich dieses kleine Miststück
nicht doch noch versehentlich liebgewann. Ich beantwortete mir die Frage mit
einem klaren und sehr ehrlichen Nein.
Nach
der Sache mit Barnabas hatte ich erkannt, dass es besser und sicherer war, sich
eventuelle Chuncasgaldakandidaten auf Distanz zu halten. Leider begriff ich
viel zu spät, dass ich in diesem Fall die komplett falsche Strategie verfolgte.
Eine
Stunde später hatte Mânil sich so weit mit seiner temporären Schweigsamkeit
arrangiert, dass er sich einen Spaß daraus machte, die Zauberformeln mit Händen
und Füßen zu interpretieren. Das führte dazu, dass ich den Unterricht abbrechen
musste, weil er die Vorhänge dabei in Brand setzte. Ich war mir nicht sicher,
ob das ein Versehen oder Vorsatz gewesen war oder eine Mischung aus beidem, da
Mânil mit seinem Zauberstab auch in normalem Zustand quasi brandgefährlich
war...
Zumindest
konnte er mich während meiner Gardinenpredigt, die darauffolgte, nicht
unterbrechen oder gegen die Strafarbeit, die ich ihm für den Unfall hemmungslos
aufbrummte, protestieren.
Leider
erzählte mir Olga am nächsten Morgen, dass sie Mânil am späten Abend übel
zugerichtet in einem recht abgelegenen Flur vorgefunden hatte. Als er wieder
ansprechbar gewesen war, hatte er darauf bestanden, eine der bebenden Treppen
hinuntergefallen zu sein. Es gab tatsächlich Treppen im Haus, die zu bestimmten
Uhrzeiten bebten, sobald man sie betrat. Ich wusste jedoch, dass er Kenntnis
davon hatte, welche das waren und keine dieser Treppen besaß Fäuste. Außerdem
hatte ich Tyrones Blick während des Unterrichts gesehen, als er bemerkte, was
mit Mânil los war – besonders als den brennenden Vorhängen auch Tyrones Jacke,
die in unmittelbarer Nähe auf einem Stuhl gehangen hatte, zum Opfer gefallen
war. Dass so etwas passierte, hatte nicht in meiner Absicht gelegen.
Doch
am nächsten Morgen am Frühstückstisch sah man Mânil seine spätabendliche
Begegnung mit unserem zukünftigen Lieblingsmonarchen und seinem Gefolge nicht
mehr an und hätte Olga mir nichts von der Sache erzählt, hätte ich es nicht
bemerkt. Olga war die fähigste Heilerin, die ich kannte und Mânil der größte
Sturkopf. Was konnte unseren Prinzen schließlich mehr ärgern, als dass man ihm
demonstrierte, wie gleichgültig er einem war?
Ob
das die klügste Strategie war, sei mal dahingestellt, aber ich fragte mich, was
geschehen würde, sobald Mânil seine Magie akzeptierte und lernte, diese bewusst
einzusetzen. Vermutlich würde ich mich dann doch noch einmischen müssen.
…
Schnipsel 2:
Eule
Ich
hatte mich auch nach über einem Jahr noch nicht daran gewöhnt, dass ich meinen
besten Freund nicht mehr regelmäßig sah. Natürlich ließ ich mir das nicht
anmerken, das ging niemanden etwas an.
Als
Ramon im Frühjahr auf Klassenfahrt gewesen war, hatte Mânil herausgefunden,
dass Briefe, die man durch Suketos speziellen Briefkasten verschickte, den
Empfänger sogar ohne Adressangabe umgehend erreichen konnten. Man brauchte
lediglich den Namen oder Spitznamen, einen Ort wie Jackentasche, Rucksack oder
auch Hosenbein und den Geburtszeitpunkt mit jeweiligem Geburtsort, anstatt
einer Adresse anzugeben. Bei häufigen Namen sollte man jedoch auch noch dazu
schreiben, welche Verbindung man zu der Person hatte, zum Beispiel „Bruder“
oder „beste Freundin“, damit der Brief bei der richtigen Person ankam. Ich
hoffte inständig, dass Ramon sich genauso erschrocken hatte wie ich, als der
erste Brief auf diese Weise bei ihm auftauchte! Seine genaue Adresse lautete dann
aus Mânils Sicht beispielsweise „Ramon Sosteya, 11.11.9959, 16.43 Uhr, Xiktaku,
mein jüngerer Bruder, linke Hosentasche“. Dank meines Spitznamens und der
Tatsache, dass Mânil offenbar nur eine beste Freundin hatte, kam seine Post
jedoch zum Glück auch ohne die Geburtsdaten bei mir an.
Nachdem
Mânil sicher war, dass das funktionierte, bereitete es ihm größte Freude,
herumzuexperimentieren, wo Briefe überall materialisieren konnten, und wir
durften uns alle wochenlang an seinem präpubertären Humor erfreuen. Ich hätte
Suketo für diese Funktion erschlagen können. Und nicht nur, weil es suboptimal
war, wenn während einer Verhandlung, in der es darum ging, mein Territorium zu
vergrößern, plötzlich ein Großer Umschlag unter meinem T-Shirt auftauchte.
Solche Vorkommnisse waren ärgerlich, aber nicht zu vermeiden, wenn man einen
bekloppten Zauberer zum Freund hatte. Dank der diversen Messer, die ich mit mir
herumtrug, ließen sich Verhandlungen wie die genannte, aber stets schnell
wieder in die gewünschte Richtung lenken.
Was
mich jedoch eigentlich an dieser Brieffunktion störte, war, dass es dadurch
nicht mehr notwendig war, die Familie Sosteya regelmäßig zu besuchen. Da Mânil
seine Briefe an mich bisher immer an Ramon gerichtet hatte, weil ich keine
feste Adresse besaß, war ich natürlich immer mal wieder dort zu Besuch gewesen.
Nun hatte ich keinen triftigen Grund mehr für diese Besuche und mir fehlte die
familiäre Atmosphäre, die ich dort immer in vollen Zügen genossen hatte.
Es
war Mitte Juni am frühen Morgen, als mich einer seiner Briefe erreichte. Zum
Glück saß ich allein ganz hinten im Bus und fuhr ziellos durch die Stadt, weil
mich das Schaukeln immer so herrlich müde machte. Die Nacht war lang gewesen
und ich versuchte, mich ein wenig zu entspannen, als ich plötzlich das
wohlbekannte leichte Drücken eines zusammengefalteten Zettels im Hosenbund
bemerkte. Ich hatte ihm schon häufig gesagt, dass wirklich alle meine Hosen
auch Hosentaschen besaßen, alles andere wäre einfach unpraktisch. Aber er hatte
grinsend gemeint, er ginge lieber auf Nummer sicher. Seufzend zog ich den
Zettel hervor und faltete ihn auf. Die Botschaft war kurz und prägnant:
‚Komm
sofort her, ich brauche Hilfe! Wir sind in Xiktaku. Mânil‘
Ich
stieg an der nächsten Haltestelle aus, um einen Bus in den Stadtteil zu nehmen,
wo Suketo sein Grundstück hatte. Ich kannte Mânil ja gut genug, um zu wissen,
dass die Not vermutlich nicht halb so groß war, wie es klang, sonst hätte er
mehr geschrieben. Aber allein die Tatsache, dass er endlich mal wieder hier
war, ließ mich, ohne zu zögern loseilen, um zu schauen, welcher seiner vielen
Schuhe ihn drückte.
Die
Fahrt dorthin würde eine gute dreiviertel Stunde dauern, sodass ich auch Zeit
genug hatte, meine gelassene Fassade wieder zurechtzurücken. Aber es gefiel
mir, Mânil mal wieder zu besuchen und ihn ganz für mich allein zu haben.
Außerdem
freute ich mich auch auf Lilian, mit der ich mich das letzte Mal so gut
verstanden hatte und die sich zu Mânils Glück ein wenig dazu berufen fühlte,
auf ihn aufzupassen, ob er das nun wollte oder nicht. Sie und ihr Leben waren
so unglaublich weit weg von mir und meiner kaputten Welt, dass ihre Gegenwart
total wohltuend auf mich gewirkt hatte.
Bei
Suketos Grundstück angekommen, öffnete Olga auf mein lautstarkes Klopfen die
Tür. Sie wusste, dass Suketo meist etwas genervt von mir war, hatte jedoch
keine Probleme, mich einzulassen.
„Schön,
dich mal wieder hier zu sehen“, lächelte sie, „Mânil ist in seinem Zimmer.“
Okay,
es wussten dann wohl eindeutig alle, dass ich nicht nur mit Amadeus bekannt
war. Den Weg zu Mânils Zimmer kannte ich ja und Olga ließ mich allein hingehen.
Ich klopfte kurz und als niemand reagierte, trat ich einfach so ein. Ich hatte
ihm schon mal vor langer Zeit trotzig erklärt, dass sich nie jemand die Mühe
gemacht hatte, mir viele Manieren beizubringen.
In
erster Linie war ich froh, ihn trotz des frühen Vormittags bereits angezogen
anzutreffen und außerdem bot sich mir ein enorm lustiges Bild: Er saß auf
seiner Couch und vor ihm auf dem Tisch lag seine Kristallkugel, die wie immer
pechschwarz war. Eindringlich und offenkundig etwas genervt redete er auf sie
ein. Die vermutlich eher ungewöhnliche Reaktion der Kugel war, dass sie
bitterlich schluchzte und wortlos dicke Tränen vergoss. Selbst ich wusste
genug, um zu erkennen, dass Kristallkugeln so etwas für gewöhnlich nicht taten.
Ohne
aufzublicken, meinte er: „Du hättest natürlich vor dem Hereinkommen anklopfen
können, um sicherzugehen, dass ich nicht gerade in irgendwelche sehr
persönlichen Aktivitäten vertieft bin.“
„Hab
ich“, erwiderte ich und schloss die Tür hinter mir.
Als
er begriff, dass kein Hausmitbewohner ihn bei seinem sehr einseitigen Gespräch
gestört hatte, sprang er auf und schloss mich freudig in die Arme. Zögerlich
erwiderte ich das. Es fühlte sich gut an, dennoch machte es mich nach wie vor
fürchterlich nervös, dass er alle seine Gefühlsregungen so offen zeigte.
„Hey,
du hast mich vor drei Wochen gerade erst zerquetscht“, kicherte ich.
Wie
hatte ich mich gefreut, als er vor zwei Jahren angefangen hatte, mich zu seinem
Geburtstag und dann auch zu Konklusionsnachtpartys völlig selbstverständlich
einzuladen! Auch wenn ich mich damals bemüht hatte, ganz cool und gelassen zu
wirken, war ich mir sicher, dass er es trotzdem bemerkt hatte.
„Mir
doch egal, drei Wochen sind schließlich eine lange Zeit“, behauptete er.
Dann
sah ich mich erst richtig um und stutzte.
„Sag
mal, was zum Geier hast du mit deinen Wänden angestellt?“, fragte ich etwas
verstört.
„Dieses
Kackgrün ging mir auf die Nerven“, meinte er beiläufig, als käme die neue
Farbgebung keinem optischen Angriff gleich.
„Und
du glaubst, DAS sei besser?!“
„Absolut!“,
behauptete er, als hätte ihn das noch niemand vor mir gefragt. „Gefällt’s dir
nicht?“
„Meine
Augen möchten gerade gern woanders sein. Das ist grauenhaft.“
„Du
wirst lernen, es zu lieben“, meinte er grinsend.
„Falls
ich mal den Verstand verliere, vielleicht“, entgegnete ich trocken, woraufhin
er unbeeindruckt das Thema wechselte. „Du bist verdammt schnell hier gewesen,
ich hab dir doch gerade erst geschrieben.“
„Ich
hatte gerade nichts Besseres zu tun, außer nach ein paar Nächten, die ich mir
um die Ohren hauen musste, endlich mal wieder ein wenig zu schlafen.“
„Will
ich es wissen?“, fragte er sachlich und immer noch der Ansicht, ich würde es
ihm schon über kurz oder lang erzählen.
„Ich
wünschte nicht.“
„Okay.“
„Deine
übersichtliche Botschaft klang dringend; was ist los? Du scheinst mir jetzt in
keiner gar so akuten Not zu sein.“
„Doch,
schon, aber eins nach dem anderen. Hast du schon gefrühstückt?“, versuchte er
mich abzulenken.
Okay,
er wollte etwas, was ihn offensichtlich verlegen machte, weshalb er versuchte,
mich mit Essen abzulenken. Ich fand es immer faszinierend, wenn es tatsächlich
mal etwas gab, dass ihm peinlich war. So oft kam das ja nicht vor und ich
fragte mich, was es sein könnte. Spontan tippte ich auf ein Mädchen – wahlweise
Jungen. Die Sache mit Selina war ja jetzt ein knappes halbes Jahr her und
vermutlich längst verdaut und abgehakt. Das Thema Shela war hingegen, soweit
ich wusste, noch aktuell.
Da
er mich so oder so füttern würde, gab ich zu, heute noch nichts gegessen zu
haben und er schleppte mich in die Küche.
„Was
war das gerade mit dieser Kugel?“, fragte ich.
„Ich
hab dir doch lang und breit von meiner Kristallkugel vorgejammert. Ihr Zustand
ist unverändert“, erwiderte er verdrießlich. „Und Suketo sagt, dass wir in ein
paar Monaten anfangen sollen, in Zukunftsdeutung mit Kugeln zu arbeiten. Ich
kann mit dieser Kugel allenfalls Dunkelheit und starke Regenfälle prophezeien.“
Trotzdem
grinste er und erzählte mir von all den anderen absurden Methoden, mit denen
Suketo seine Solekorek in die Zukunft schauen ließ.
„Also
nicht, dass ich oder die anderen schon mal irgendetwas geweissagt hätten, was
dann auch eingetroffen wäre“, gab er zu. „Aber Suketo scheint sich über unsere
völlig erfolglosen Bemühungen köstlich zu amüsieren.“
„Kann
man echt aus Kaffeematsch und Kartenspielen die Zukunft ablesen?“, fragte ich
etwas ungläubig.
„Suketo
behauptet das zumindest“, sagte er und deckte einen Frühstückstisch, der
wirkte, als hätten wir eine Hungersnot hinter uns.
„Erwartest
du noch Gäste?“, fragte ich amüsiert.
„Ich
hab Hunger, ich befinde mich in einer Wachstumsphase“, beschied er mir
hoheitsvoll.
„Bist
du sicher, dass du noch nach oben hin wächst?“
Er
hob eine Augenbraue und entgegnete: „Ich kann dir versichern, dass ich
gelegentlich an der ein oder anderen Stelle wachse.“
„Zu
viel Information!“, schrie ich und fragte mich, wie er das schaffte, eine
angehobene Augenbraue so anzüglich wirken zu lassen.
Er
lachte und verkündete: „Ich messe inzwischen stolze ein Meter siebenundsechzig
und ich habe keine Ahnung, was du jetzt schon wieder denkst!“
„Nie
im Leben bist du jetzt größer als ich!“, stürzte ich mich auf das Problem
seiner nicht zunehmen wollenden Körpergröße und er sagte unvermittelt: „Leila
hat sich übrigens beschwert, dass du nicht mehr zu Besuch kommst.“
Das
Bestreichen meiner Brötchenhälfte erforderte auf einmal meine gesamte
Aufmerksamkeit. Ich hatte keine Ahnung, was das heißen sollte und es hatte mir
noch nie gefallen, nicht zu begreifen, was man zu mir sagte. Mânil ließ sich
aber nicht abwimmeln und sah mich erwartungsvoll an.
„Sie
vermissen dich“, fügte er hinzu und ich fand es ziemlich blöd, dass er das
sagte.
„Wieso
sagst du das?“, fragte ich und erklärte: „Du schickst deine Briefe an mich doch
nicht mehr über Ramon.“
„Echt
jetzt? Soll ich Leila sagen, dass es dir nicht gefallen hat, sie zu besuchen?“
Ich
wand mich, er verstand mich voller Absicht falsch.
„Nein,
natürlich nicht, aber...“
„Aber?“
Unglücklich
betrachtete ich meine Finger, meinen Teller, die Tischplatte und sagte
unfreundlich: „Du bist ein Arsch.“
„Das
weiß ich und ich sehe, dass du große Lust hast, meine Familie zu besuchen, dich
aber nicht traust, weil du es nicht magst, wenn Menschen merken, dass du sie
gernhast. Es nervt dich bei mir ja schon, dass mir aufgefallen ist, wieso du
mich nicht mehr verhaust.“
„Da
wollten wir nicht mehr drüber reden“, erinnerte ich ihn kühl.
„Stimmt.
Entschuldige. Trotzdem weiß ich, dass ich recht habe.“
Er
beobachtete einen Moment mein Gefühlschaos, das ich so meisterhaft vor der
ganzen Welt imstande war zu verbergen – mit einer Ausnahme. Dann sagte er: „Ich
werde nachher Leila schreiben und nebenbei erwähnen, dass du mir gesagt hast,
du wolltest sie mal wieder öfter besuchen.“
„Ich
hasse dich“, erwiderte ich.
„Das
ist okay, aber wenn du mich jetzt weiter anschmollst, werde ich deinen Kaffee
mit mindestens fünf Zuckerwürfeln und sehr viel Milch und Sirup verbessern“,
drohte er mir fröhlich.
„Das
ist keine Verbesserung, das ist einfach nur sehr pervers“, sagte ich und sah
zu, dass ich meinen schwarzen Kaffee trank, denn ich wusste, dass er keine
Hemmungen hatte, solche Drohungen in die Tat umzusetzen. Nach der Geschichte
mit Suketos Geburtstagstorte war diese Ankündigung auch noch viel Angst
einflößender.
Ich
konnte nichts dagegen unternehmen, dass ich grinste, als ich den Becher
absetzte, auch wenn ich es versuchte.
„Also
dann“, sagte ich, um den Spieß schleunigst wieder umzudrehen. „Warum bin ich
hier?“
„Es
ist viel zu früh am Morgen für derart philosophische Fragen“, meinte er.
Als
ich ihn weiter erwartungsvoll ansah, stand er seufzend auf, drehte sich einmal
um sich selbst und fragte ein wenig verlegen: „Kann ich so gehen?“
Ich
gab mein Bestes, nicht mein Frühstück über den Tisch zu prusten vor Lachen,
sondern erwiderte: „Hm, geh mal.“
Stirnrunzelnd
ging er ein paar Schritte zum Kühlschrank und wieder zurück.
„Glaub
schon“, meinte ich und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Du setzt
ordnungsgemäß einen Fuß vor den anderen, die Schwerkraft ist auf deiner Seite,
du torkelst nur wenig.“
Er
gab sich große Mühe, mich ärgerlich anzufunkeln und ich schüttete mich aus vor
Lachen.
„Das
ist eine ernste Angelegenheit“, teilte er mir mit und setzte sich wieder an den
Tisch.
Ich
versuchte, den Ernst der Lage zu erfassen und sagte: „Kommt drauf an, wo du
hingehen willst und in wessen Gesellschaft.“
Bereitwillig
begutachtete ich sein Outfit. Er trug ein neongrünes Shirt mit
kurzgeschnittenen Ärmeln und irgendeinem Graffitiaufdruck, eine schwarze
Kunstlederhose und scharlachrote Lackstiefel mit Plateausohle. Ich kicherte.
Die kannte ich noch nicht, aber da ich ihn und seine oft etwas abstruse
Vorstellung einer angemessenen Garderobe schon länger kannte, passten sie
irritierenderweise trotzdem gut ins Bild.
„Ich
nehme nicht an, dass du mit jemandem ausgehen willst, mit dem du schon aus
warst?“, umschiffte ich behutsam das Thema Selina.
„Mache
ich auf dich den Eindruck, als litte ich unter fortgeschrittenem Wahnsinn?“,
fragte er schnippisch zurück.
Ich
nickte und er trat mir gegen das Schienbein.
„Nein“,
sagte er. „Mit Shela.“
„Wie,
mit Shela? Sie geht aus? Nach dem, was du erzählt hast, klang so was bisher
doch eher unwahrscheinlich. Wie hast du das geschafft?“
„Na
ja“, meinte er und wand sich ein wenig. „Ich müsste sie natürlich vorher noch
fragen.“
Es
war komplett ausgeschlossen, nicht in hemmungsloses Gelächter auszubrechen.
Ehrlich. Er wartete geduldig, bis ich fertig war und fragte: „Also was ist
nun?“
Da
es ihm offensichtlich ernst war, widmete ich mich der Frage und sagte: „Du
siehst in der Tat für deine Verhältnisse ziemlich normal aus. Von mir aus
kannst du aber auch ein Kleid anziehen, das wäre okay für mich.“
„Weiß
ich. Und Shela?“
„Ich
kenne sie ja nun nicht, aber wenn ich mal so von der Durchschnittsfrau ausgehe,
würde ich mir an deiner Stelle eventuell trotzdem andere Schuhe anziehen“,
grinste ich.
Stirnrunzelnd
betrachtete er seine Füße. „Wenn du meinst. Wieso?“
„Ach“,
sagte ich. „Behalte sie an. Wenn sie dich haben will, muss sie so oder so mit
deinem Klamottengeschmack klarkommen. Außerdem ist sie vermutlich ohnehin
längst mit deinem Anblick vertraut, oder?“
…
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