Montag, 4. März 2024

[Schnipseltime] Mânil - Einfach nur der Anfang von Desiderius M. Rainbow

 

„Mânil – einfach nur der Anfang“ (Desiderius M. Rainbow)

2 XXL-Schnipsel

 

Schnipsel 1:

 

Mânil

…„Wie hast du das gemacht?“, fragte er unwillig.

Es gefiel ihm nicht, dass er nicht sofort herausfinden konnte, was ich gemacht hatte und vor allem, dass es nicht einfach so rückgängig zu machen war. Ich überlegte, ob ich einlenken und es ihm um des lieben Friedens willen erzählen sollte, und antwortete: „Weißt du, ich schätze, dass dies einer dieser mysteriösen Zauber ist, die jeder Nichtzauberstabbenutzer für sich selbst finden muss.“

Sein Gesichtsausdruck sagte mir, dass ich diese Bemerkung noch bereuen würde, aber vorerst ging er nicht darauf ein.

Schulterzuckend setzte er sich auf einen der beiden Sessel und sah sich um.

„Amadeus hat mich ja gewarnt, dass es schlimm ist. Er hat mir jedoch nicht erzählt, WIE schlimm es ist“, kommentierte er die Raumumgestaltung trocken.

„Du hast gesagt, dass ich die Wände streichen darf.“

„Mir war nicht klar, dass du planst, mein Haus zu verunstalten und deine unschuldigen Besucher mit Augenkrebs zu strafen“, sagte er, ohne die Miene zu verziehen.

Ich kicherte und fragte: „Ich nehme nicht an, dass du mich nur deshalb mit deiner Anwesenheit beehrst, um meinen exquisiten Farbgeschmack zu loben.“

„Ach, Geschmack nennst du das? Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass ich gefoltert werden soll. Eigentlich will ich mit dir über eine andere Sache sprechen, von der ich denke, dass du sie wissen solltest. Nicht, dass du mir wieder vorwirfst, ich hätte dich nicht gewarnt.“

„Was sind denn das für Anwandlungen? Ist alles okay bei dir? Du bist doch sonst auch eher der Geheimnisträger“, erkundigte ich mich spöttisch.

„Sei still“, befahl er und wedelte genervt mit der Hand, als wäre ich ein lästiges Insekt.

Ich wollte etwas erwidern, stellte jedoch entsetzt fest, dass plötzlich keine Töne mehr aus meinem Mund kamen. Mit einem leichten Anflug von Panik fasste ich nach meinem Hals und versuchte nach Kräften zu sprechen, zu schreien, doch brachte ich nicht mehr den leisesten Ton zustande.

Genießerisch lehnte Suketo sich in seinem Sessel zurück und schwärmte: „Endlich Stille! So gefällst du mir deutlich besser.“

Er beobachtete noch einen Moment amüsiert meine verzweifelten Versuche, meine Stimme wieder zu finden, bis er sagte: „Beruhige dich, ich hab dich nur vorübergehend leise gestellt. Der Zauber lässt sich jederzeit rückstandslos wieder entfernen. Also entspann dich.“

Peinlich berührt versuchte ich durchzuatmen und meine Versuche zu sprechen einzustellen, um wieder etwas gelassener zu wirken.

Wo kamen wir denn hin, wenn ich Suketo so offensichtlich demonstrierte, dass er einen Schwachpunkt gefunden hatte? Leider war es zu spät, meine spontane panische Reaktion rückgängig zu machen, aber er sollte bloß nicht denken, dass es doch etwas gab, womit ich auf Dauer nicht klarkam! Man konnte schließlich alles Mögliche mit mir anstellen; ich stand immer wieder auf und hatte meist sogar noch irgendwelche überflüssigen Bemerkungen parat, die die Situation nicht selten noch verschlimmerten; aber von meiner Stimme ließ man gefälligst die Finger!

 

Suketo

Warum war mir der Schweigezauber nicht schon viel früher eingefallen? Es machte eine Unterhaltung mit Mânil so viel einfacher und angenehmer und der Spaßfaktor war für mich ebenfalls deutlich höher. Offensichtlich hatte ich ihm damit tatsächlich einen gehörigen Schrecken eingejagt. Nachdem ich ihm jedoch erläutert hatte, was ich getan hatte, benötigte er bemerkenswert wenig Zeit, um sich zu beruhigen und sich auf die neue Situation einzustellen.

Ich gab es nur ungern zu, aber wenn er etwas wirklich gut konnte, dann war es Einstecken. Das war auch ganz gut und würde ihm vermutlich sehr helfen, wenn er hierzubleiben gedachte. Bei seiner großen Klappe war das eine Fähigkeit, die er dringend benötigte.

Außerdem hatte ich neulich festgestellt, dass ich ihn nicht so dringend loswerden wollte, wie ich gedacht hatte. Als er diesen gelben Raum verlassen hatte, mit der Ankündigung, nicht wiederzukommen, hatte ich vergeblich auf das erleichterte Gefühl gewartet. Nun hatte ich den Salat: Er war immer noch da. Ich hatte ihn kein Stück lieber als vorher, aber seine Magie faszinierte mich. Es gab bei ihm stets nur dieses Entweder-Oder: entweder er versagte auf ganzer Linie oder er tat Dinge, die selbst mich gegen meinen Willen beeindruckten. Und diese Dinge machte er anscheinend auch noch ohne jeden Plan.

Da waren zum Beispiel die magischen Türen. Sie waren voller Absicht so konzipiert, dass es nicht möglich war, sie zu verriegeln. Sie stellten praktische Abkürzungen oder auch zuverlässige Fluchtwege dar - oder die Möglichkeit, unbeherrschte Zauberer im Auge zu behalten. Man verwendete magische Türen genau aus dem Grund – weil man sie nicht verschließen konnte. Und dann kam dieser völlig unbedarfte und undisziplinierte Grünschnabel daher und schloss seine Türen ab, ohne dabei zu bemerken, was er da eigentlich getan hatte. Er dachte vermutlich, diese Türen seien lediglich eine meiner zahlreichen Macken. Gleichzeitig war er jedoch völlig damit überfordert, eine simple Kerze anzuzünden. Ich fand es ziemlich mutig, wenn auch reichlich leichtsinnig, dass er das trotzdem in seinem Zimmer übte. Mir war jedoch auch bereits aufgefallen, dass ihm Zauber, die die Elemente beeinflussten, generell nicht gelangen. Ihn blockierte noch immer der Vorfall am Strand, den er noch nicht so recht verarbeitet hatte. Ich würde mir für dieses Problem mal etwas überlegen müssen.

„Habe ich deine ungeteilte Aufmerksamkeit?“, fragte ich süffisant. Mittlerweile völlig entspannt lehnte er sich in seinem Sofa zurück, verschränkte die Arme vor der Brust, legte den Kopf schräg und sah mich fragend an.

„Die Sache ist die“, begann ich. „Wer magische Kräfte besitzt, bemerkt das für gewöhnlich zwischen dem zehnten und zwanzigsten Lebensjahr. Statistisch machen sich die jeweiligen Fähigkeiten umso später bemerkbar, um so stärker sie sind. Das ist gut so, denn wenn sie sich zeigen, bevor der betreffende Pherrak’ta ausgewachsen ist, hemmen sie das Wachstum.“

Ich sah seinem Blick an, dass er wusste, worauf ich hinauswollte und er wirkte nicht begeistert, was ich ihm nicht verübeln konnte. Er war klein, schmal, dünn und blass. Auch die vielen Stunden, die er im Sommer trotz seines Heuschnupfens draußen in der Sonne verbracht hatte, hatten seiner bleichen Haut nichts anhaben können.

„Was ich damit sagen will,“ fuhr ich fort, „ist, dass du offensichtlich ganz enorme Kräfte in dir trägst und ob du nun lernst, sie zu beherrschen oder nicht – die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass du... nun ja, ein ‚Nachtschattengewächs‘ bleiben wirst.“

‚Na super‘ sagte sein spöttischer Blick und ich erklärte: „Auch wenn deine körperliche Entwicklung wahrscheinlich etwas auf der Strecke bleiben wird, fließt all deine Kraft in die Entwicklung deiner Magie und deiner Psyche, damit du mit deinen Kräften fertig wirst.“

Er nahm einen Block und einen Stift vom Tisch, kritzelte grinsend etwas darauf und reichte mir den Block.

'Da bin ich aber froh, dass meine edelsten Teile sich zu meiner vollen Zufriedenheit entwickelt haben, bevor ich mich versehentlich verwandelt habe!'

„Na, wenn das deine größte Sorge ist...“, erwiderte ich und er hob eine Augenbraue ob meiner Wortwahl.

Er dachte kurz nach und schrieb:

'Du kannst dir die Chuncasgaldaprüfung aus dem Kopf schlagen. Die lachen dich aus und sagen dir, dass sie keine Kinder zulassen. Hab gelesen, man muss mindestens neunzehn sein.'

Als ich die neue Botschaft las, lachte er, natürlich völlig geräuschlos. Ich fand es etwas irritierend, wie rasch er sich damit arrangiert hatte, nichts sagen zu können, besonders, wenn ich bedachte, wie es ihn im ersten Moment - also noch vor ein paar Minuten – in Panik versetzt hatte.

„Wir sagen, du bist ein Mädchen, dann geht das mit der Größe in Ordnung“, erwiderte ich ungerührt.

'Ist ´n Plan. Wann krieg ich meine Stimme zurück?'

schrieb er dann und sah mich fragend an.

„So ich den Zauber nicht aufhebe, sollte er sich in maximal zehn Stunden auflösen. Und nein, ich habe nicht vor, ihn rückgängig zu machen. Du bist auf diese Weise eine viel angenehmere Gesellschaft.“

'Is’ gut. Bringst du ihn mir bei?'

las ich dann. Hätte ich voller Vorfreude auf Protest gewartet, wäre ich vermutlich etwas enttäuscht gewesen...

„Ich denke nicht im Traum dran!“, antwortete ich lachend.

Er zuckte mit den Schultern und schrieb:

'Okay, ich verrate dir ja auch nicht, was ich mit deinen Türen angestellt habe.'

Ich verdrehte nur die Augen und sagte: „Du glaubst nicht wirklich, dass ich das nicht herausfinden könnte, wenn ich dringend wollte, oder? Dies ist schließlich mein Haus.“

Damit stand ich auf und ging zur Tür. Einer spontanen Idee folgend drehte ich mich dort noch mal um und sagte: „Ach ja, in einer Stunde habt ihr Zauberstabpflege und -anwendung; komm bitte pünktlich.“

Laut Stundenplan war das tatsächlich als Nächstes dran und im Augenblick gingen wir einfache, kleine Zauber durch, die das Aufsagen von Formeln beinhalteten. Und ja, das war gemein und auch, dass ich ihn mit der Schweigemagie vor meinen anderen Solekorek total vorführte, war völlig beabsichtigt und ich habe nicht den Hauch einer Entschuldigung dafür.

Mânil verdrehte ebenfalls die Augen und streckte mir freimütig die Zunge heraus.

„Es gibt noch andere interessante Arten von Schweigemagie, z.B. einen Knebelzauber, der die Mundhöhle und den Unterkiefer betäubt und zu unkontrolliertem Speichelfluss führt. Wusstest du das?“, sagte ich und schenkte ihm mein diabolischstes Lächeln, woraufhin sein penetrantes Grinsen wenigstens etwas verrutschte.

„Du solltest übrigens versuchen, heute niemandem über den Weg zu laufen, der sich daran erfreuen könnte, dass du zurzeit eher schweigsam bist. Nur als gut gemeinter Rat.“

Damit verließ ich den Raum, um noch die letzten Unterrichtsvorbereitungen zu treffen. Auf dem Weg zu den Unterrichtsräumen fragte ich mich, ob ich mir tatsächlich für nichts zu schade war, um zu verhindern, dass ich dieses kleine Miststück nicht doch noch versehentlich liebgewann. Ich beantwortete mir die Frage mit einem klaren und sehr ehrlichen Nein.

Nach der Sache mit Barnabas hatte ich erkannt, dass es besser und sicherer war, sich eventuelle Chuncasgaldakandidaten auf Distanz zu halten. Leider begriff ich viel zu spät, dass ich in diesem Fall die komplett falsche Strategie verfolgte.

Eine Stunde später hatte Mânil sich so weit mit seiner temporären Schweigsamkeit arrangiert, dass er sich einen Spaß daraus machte, die Zauberformeln mit Händen und Füßen zu interpretieren. Das führte dazu, dass ich den Unterricht abbrechen musste, weil er die Vorhänge dabei in Brand setzte. Ich war mir nicht sicher, ob das ein Versehen oder Vorsatz gewesen war oder eine Mischung aus beidem, da Mânil mit seinem Zauberstab auch in normalem Zustand quasi brandgefährlich war...

Zumindest konnte er mich während meiner Gardinenpredigt, die darauffolgte, nicht unterbrechen oder gegen die Strafarbeit, die ich ihm für den Unfall hemmungslos aufbrummte, protestieren.

Leider erzählte mir Olga am nächsten Morgen, dass sie Mânil am späten Abend übel zugerichtet in einem recht abgelegenen Flur vorgefunden hatte. Als er wieder ansprechbar gewesen war, hatte er darauf bestanden, eine der bebenden Treppen hinuntergefallen zu sein. Es gab tatsächlich Treppen im Haus, die zu bestimmten Uhrzeiten bebten, sobald man sie betrat. Ich wusste jedoch, dass er Kenntnis davon hatte, welche das waren und keine dieser Treppen besaß Fäuste. Außerdem hatte ich Tyrones Blick während des Unterrichts gesehen, als er bemerkte, was mit Mânil los war – besonders als den brennenden Vorhängen auch Tyrones Jacke, die in unmittelbarer Nähe auf einem Stuhl gehangen hatte, zum Opfer gefallen war. Dass so etwas passierte, hatte nicht in meiner Absicht gelegen.

 

Doch am nächsten Morgen am Frühstückstisch sah man Mânil seine spätabendliche Begegnung mit unserem zukünftigen Lieblingsmonarchen und seinem Gefolge nicht mehr an und hätte Olga mir nichts von der Sache erzählt, hätte ich es nicht bemerkt. Olga war die fähigste Heilerin, die ich kannte und Mânil der größte Sturkopf. Was konnte unseren Prinzen schließlich mehr ärgern, als dass man ihm demonstrierte, wie gleichgültig er einem war?

Ob das die klügste Strategie war, sei mal dahingestellt, aber ich fragte mich, was geschehen würde, sobald Mânil seine Magie akzeptierte und lernte, diese bewusst einzusetzen. Vermutlich würde ich mich dann doch noch einmischen müssen.

 

 

 

 

Schnipsel 2:

 

Eule

Ich hatte mich auch nach über einem Jahr noch nicht daran gewöhnt, dass ich meinen besten Freund nicht mehr regelmäßig sah. Natürlich ließ ich mir das nicht anmerken, das ging niemanden etwas an.

Als Ramon im Frühjahr auf Klassenfahrt gewesen war, hatte Mânil herausgefunden, dass Briefe, die man durch Suketos speziellen Briefkasten verschickte, den Empfänger sogar ohne Adressangabe umgehend erreichen konnten. Man brauchte lediglich den Namen oder Spitznamen, einen Ort wie Jackentasche, Rucksack oder auch Hosenbein und den Geburtszeitpunkt mit jeweiligem Geburtsort, anstatt einer Adresse anzugeben. Bei häufigen Namen sollte man jedoch auch noch dazu schreiben, welche Verbindung man zu der Person hatte, zum Beispiel „Bruder“ oder „beste Freundin“, damit der Brief bei der richtigen Person ankam. Ich hoffte inständig, dass Ramon sich genauso erschrocken hatte wie ich, als der erste Brief auf diese Weise bei ihm auftauchte! Seine genaue Adresse lautete dann aus Mânils Sicht beispielsweise „Ramon Sosteya, 11.11.9959, 16.43 Uhr, Xiktaku, mein jüngerer Bruder, linke Hosentasche“. Dank meines Spitznamens und der Tatsache, dass Mânil offenbar nur eine beste Freundin hatte, kam seine Post jedoch zum Glück auch ohne die Geburtsdaten bei mir an.

Nachdem Mânil sicher war, dass das funktionierte, bereitete es ihm größte Freude, herumzuexperimentieren, wo Briefe überall materialisieren konnten, und wir durften uns alle wochenlang an seinem präpubertären Humor erfreuen. Ich hätte Suketo für diese Funktion erschlagen können. Und nicht nur, weil es suboptimal war, wenn während einer Verhandlung, in der es darum ging, mein Territorium zu vergrößern, plötzlich ein Großer Umschlag unter meinem T-Shirt auftauchte. Solche Vorkommnisse waren ärgerlich, aber nicht zu vermeiden, wenn man einen bekloppten Zauberer zum Freund hatte. Dank der diversen Messer, die ich mit mir herumtrug, ließen sich Verhandlungen wie die genannte, aber stets schnell wieder in die gewünschte Richtung lenken.

Was mich jedoch eigentlich an dieser Brieffunktion störte, war, dass es dadurch nicht mehr notwendig war, die Familie Sosteya regelmäßig zu besuchen. Da Mânil seine Briefe an mich bisher immer an Ramon gerichtet hatte, weil ich keine feste Adresse besaß, war ich natürlich immer mal wieder dort zu Besuch gewesen. Nun hatte ich keinen triftigen Grund mehr für diese Besuche und mir fehlte die familiäre Atmosphäre, die ich dort immer in vollen Zügen genossen hatte.

Es war Mitte Juni am frühen Morgen, als mich einer seiner Briefe erreichte. Zum Glück saß ich allein ganz hinten im Bus und fuhr ziellos durch die Stadt, weil mich das Schaukeln immer so herrlich müde machte. Die Nacht war lang gewesen und ich versuchte, mich ein wenig zu entspannen, als ich plötzlich das wohlbekannte leichte Drücken eines zusammengefalteten Zettels im Hosenbund bemerkte. Ich hatte ihm schon häufig gesagt, dass wirklich alle meine Hosen auch Hosentaschen besaßen, alles andere wäre einfach unpraktisch. Aber er hatte grinsend gemeint, er ginge lieber auf Nummer sicher. Seufzend zog ich den Zettel hervor und faltete ihn auf. Die Botschaft war kurz und prägnant:

‚Komm sofort her, ich brauche Hilfe! Wir sind in Xiktaku. Mânil‘

Ich stieg an der nächsten Haltestelle aus, um einen Bus in den Stadtteil zu nehmen, wo Suketo sein Grundstück hatte. Ich kannte Mânil ja gut genug, um zu wissen, dass die Not vermutlich nicht halb so groß war, wie es klang, sonst hätte er mehr geschrieben. Aber allein die Tatsache, dass er endlich mal wieder hier war, ließ mich, ohne zu zögern loseilen, um zu schauen, welcher seiner vielen Schuhe ihn drückte.

Die Fahrt dorthin würde eine gute dreiviertel Stunde dauern, sodass ich auch Zeit genug hatte, meine gelassene Fassade wieder zurechtzurücken. Aber es gefiel mir, Mânil mal wieder zu besuchen und ihn ganz für mich allein zu haben.

Außerdem freute ich mich auch auf Lilian, mit der ich mich das letzte Mal so gut verstanden hatte und die sich zu Mânils Glück ein wenig dazu berufen fühlte, auf ihn aufzupassen, ob er das nun wollte oder nicht. Sie und ihr Leben waren so unglaublich weit weg von mir und meiner kaputten Welt, dass ihre Gegenwart total wohltuend auf mich gewirkt hatte.

Bei Suketos Grundstück angekommen, öffnete Olga auf mein lautstarkes Klopfen die Tür. Sie wusste, dass Suketo meist etwas genervt von mir war, hatte jedoch keine Probleme, mich einzulassen.

„Schön, dich mal wieder hier zu sehen“, lächelte sie, „Mânil ist in seinem Zimmer.“

Okay, es wussten dann wohl eindeutig alle, dass ich nicht nur mit Amadeus bekannt war. Den Weg zu Mânils Zimmer kannte ich ja und Olga ließ mich allein hingehen. Ich klopfte kurz und als niemand reagierte, trat ich einfach so ein. Ich hatte ihm schon mal vor langer Zeit trotzig erklärt, dass sich nie jemand die Mühe gemacht hatte, mir viele Manieren beizubringen.

In erster Linie war ich froh, ihn trotz des frühen Vormittags bereits angezogen anzutreffen und außerdem bot sich mir ein enorm lustiges Bild: Er saß auf seiner Couch und vor ihm auf dem Tisch lag seine Kristallkugel, die wie immer pechschwarz war. Eindringlich und offenkundig etwas genervt redete er auf sie ein. Die vermutlich eher ungewöhnliche Reaktion der Kugel war, dass sie bitterlich schluchzte und wortlos dicke Tränen vergoss. Selbst ich wusste genug, um zu erkennen, dass Kristallkugeln so etwas für gewöhnlich nicht taten.

Ohne aufzublicken, meinte er: „Du hättest natürlich vor dem Hereinkommen anklopfen können, um sicherzugehen, dass ich nicht gerade in irgendwelche sehr persönlichen Aktivitäten vertieft bin.“

„Hab ich“, erwiderte ich und schloss die Tür hinter mir.

Als er begriff, dass kein Hausmitbewohner ihn bei seinem sehr einseitigen Gespräch gestört hatte, sprang er auf und schloss mich freudig in die Arme. Zögerlich erwiderte ich das. Es fühlte sich gut an, dennoch machte es mich nach wie vor fürchterlich nervös, dass er alle seine Gefühlsregungen so offen zeigte.

„Hey, du hast mich vor drei Wochen gerade erst zerquetscht“, kicherte ich.

Wie hatte ich mich gefreut, als er vor zwei Jahren angefangen hatte, mich zu seinem Geburtstag und dann auch zu Konklusionsnachtpartys völlig selbstverständlich einzuladen! Auch wenn ich mich damals bemüht hatte, ganz cool und gelassen zu wirken, war ich mir sicher, dass er es trotzdem bemerkt hatte.

„Mir doch egal, drei Wochen sind schließlich eine lange Zeit“, behauptete er.

Dann sah ich mich erst richtig um und stutzte.

„Sag mal, was zum Geier hast du mit deinen Wänden angestellt?“, fragte ich etwas verstört.

„Dieses Kackgrün ging mir auf die Nerven“, meinte er beiläufig, als käme die neue Farbgebung keinem optischen Angriff gleich.

„Und du glaubst, DAS sei besser?!“

„Absolut!“, behauptete er, als hätte ihn das noch niemand vor mir gefragt. „Gefällt’s dir nicht?“

„Meine Augen möchten gerade gern woanders sein. Das ist grauenhaft.“

„Du wirst lernen, es zu lieben“, meinte er grinsend.

„Falls ich mal den Verstand verliere, vielleicht“, entgegnete ich trocken, woraufhin er unbeeindruckt das Thema wechselte. „Du bist verdammt schnell hier gewesen, ich hab dir doch gerade erst geschrieben.“

„Ich hatte gerade nichts Besseres zu tun, außer nach ein paar Nächten, die ich mir um die Ohren hauen musste, endlich mal wieder ein wenig zu schlafen.“

„Will ich es wissen?“, fragte er sachlich und immer noch der Ansicht, ich würde es ihm schon über kurz oder lang erzählen.

„Ich wünschte nicht.“

„Okay.“

„Deine übersichtliche Botschaft klang dringend; was ist los? Du scheinst mir jetzt in keiner gar so akuten Not zu sein.“

„Doch, schon, aber eins nach dem anderen. Hast du schon gefrühstückt?“, versuchte er mich abzulenken.

Okay, er wollte etwas, was ihn offensichtlich verlegen machte, weshalb er versuchte, mich mit Essen abzulenken. Ich fand es immer faszinierend, wenn es tatsächlich mal etwas gab, dass ihm peinlich war. So oft kam das ja nicht vor und ich fragte mich, was es sein könnte. Spontan tippte ich auf ein Mädchen – wahlweise Jungen. Die Sache mit Selina war ja jetzt ein knappes halbes Jahr her und vermutlich längst verdaut und abgehakt. Das Thema Shela war hingegen, soweit ich wusste, noch aktuell.

Da er mich so oder so füttern würde, gab ich zu, heute noch nichts gegessen zu haben und er schleppte mich in die Küche.

„Was war das gerade mit dieser Kugel?“, fragte ich.

„Ich hab dir doch lang und breit von meiner Kristallkugel vorgejammert. Ihr Zustand ist unverändert“, erwiderte er verdrießlich. „Und Suketo sagt, dass wir in ein paar Monaten anfangen sollen, in Zukunftsdeutung mit Kugeln zu arbeiten. Ich kann mit dieser Kugel allenfalls Dunkelheit und starke Regenfälle prophezeien.“

Trotzdem grinste er und erzählte mir von all den anderen absurden Methoden, mit denen Suketo seine Solekorek in die Zukunft schauen ließ.

„Also nicht, dass ich oder die anderen schon mal irgendetwas geweissagt hätten, was dann auch eingetroffen wäre“, gab er zu. „Aber Suketo scheint sich über unsere völlig erfolglosen Bemühungen köstlich zu amüsieren.“

„Kann man echt aus Kaffeematsch und Kartenspielen die Zukunft ablesen?“, fragte ich etwas ungläubig.

„Suketo behauptet das zumindest“, sagte er und deckte einen Frühstückstisch, der wirkte, als hätten wir eine Hungersnot hinter uns.

„Erwartest du noch Gäste?“, fragte ich amüsiert.

„Ich hab Hunger, ich befinde mich in einer Wachstumsphase“, beschied er mir hoheitsvoll.

„Bist du sicher, dass du noch nach oben hin wächst?“

Er hob eine Augenbraue und entgegnete: „Ich kann dir versichern, dass ich gelegentlich an der ein oder anderen Stelle wachse.“

„Zu viel Information!“, schrie ich und fragte mich, wie er das schaffte, eine angehobene Augenbraue so anzüglich wirken zu lassen.

Er lachte und verkündete: „Ich messe inzwischen stolze ein Meter siebenundsechzig und ich habe keine Ahnung, was du jetzt schon wieder denkst!“

„Nie im Leben bist du jetzt größer als ich!“, stürzte ich mich auf das Problem seiner nicht zunehmen wollenden Körpergröße und er sagte unvermittelt: „Leila hat sich übrigens beschwert, dass du nicht mehr zu Besuch kommst.“

Das Bestreichen meiner Brötchenhälfte erforderte auf einmal meine gesamte Aufmerksamkeit. Ich hatte keine Ahnung, was das heißen sollte und es hatte mir noch nie gefallen, nicht zu begreifen, was man zu mir sagte. Mânil ließ sich aber nicht abwimmeln und sah mich erwartungsvoll an.

„Sie vermissen dich“, fügte er hinzu und ich fand es ziemlich blöd, dass er das sagte.

„Wieso sagst du das?“, fragte ich und erklärte: „Du schickst deine Briefe an mich doch nicht mehr über Ramon.“

„Echt jetzt? Soll ich Leila sagen, dass es dir nicht gefallen hat, sie zu besuchen?“

Ich wand mich, er verstand mich voller Absicht falsch.

„Nein, natürlich nicht, aber...“

„Aber?“

Unglücklich betrachtete ich meine Finger, meinen Teller, die Tischplatte und sagte unfreundlich: „Du bist ein Arsch.“

„Das weiß ich und ich sehe, dass du große Lust hast, meine Familie zu besuchen, dich aber nicht traust, weil du es nicht magst, wenn Menschen merken, dass du sie gernhast. Es nervt dich bei mir ja schon, dass mir aufgefallen ist, wieso du mich nicht mehr verhaust.“

„Da wollten wir nicht mehr drüber reden“, erinnerte ich ihn kühl.

„Stimmt. Entschuldige. Trotzdem weiß ich, dass ich recht habe.“

Er beobachtete einen Moment mein Gefühlschaos, das ich so meisterhaft vor der ganzen Welt imstande war zu verbergen – mit einer Ausnahme. Dann sagte er: „Ich werde nachher Leila schreiben und nebenbei erwähnen, dass du mir gesagt hast, du wolltest sie mal wieder öfter besuchen.“

„Ich hasse dich“, erwiderte ich.

„Das ist okay, aber wenn du mich jetzt weiter anschmollst, werde ich deinen Kaffee mit mindestens fünf Zuckerwürfeln und sehr viel Milch und Sirup verbessern“, drohte er mir fröhlich.

„Das ist keine Verbesserung, das ist einfach nur sehr pervers“, sagte ich und sah zu, dass ich meinen schwarzen Kaffee trank, denn ich wusste, dass er keine Hemmungen hatte, solche Drohungen in die Tat umzusetzen. Nach der Geschichte mit Suketos Geburtstagstorte war diese Ankündigung auch noch viel Angst einflößender.

Ich konnte nichts dagegen unternehmen, dass ich grinste, als ich den Becher absetzte, auch wenn ich es versuchte.

„Also dann“, sagte ich, um den Spieß schleunigst wieder umzudrehen. „Warum bin ich hier?“

„Es ist viel zu früh am Morgen für derart philosophische Fragen“, meinte er.

Als ich ihn weiter erwartungsvoll ansah, stand er seufzend auf, drehte sich einmal um sich selbst und fragte ein wenig verlegen: „Kann ich so gehen?“

Ich gab mein Bestes, nicht mein Frühstück über den Tisch zu prusten vor Lachen, sondern erwiderte: „Hm, geh mal.“

Stirnrunzelnd ging er ein paar Schritte zum Kühlschrank und wieder zurück.

„Glaub schon“, meinte ich und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Du setzt ordnungsgemäß einen Fuß vor den anderen, die Schwerkraft ist auf deiner Seite, du torkelst nur wenig.“

Er gab sich große Mühe, mich ärgerlich anzufunkeln und ich schüttete mich aus vor Lachen.

„Das ist eine ernste Angelegenheit“, teilte er mir mit und setzte sich wieder an den Tisch.

Ich versuchte, den Ernst der Lage zu erfassen und sagte: „Kommt drauf an, wo du hingehen willst und in wessen Gesellschaft.“

Bereitwillig begutachtete ich sein Outfit. Er trug ein neongrünes Shirt mit kurzgeschnittenen Ärmeln und irgendeinem Graffitiaufdruck, eine schwarze Kunstlederhose und scharlachrote Lackstiefel mit Plateausohle. Ich kicherte. Die kannte ich noch nicht, aber da ich ihn und seine oft etwas abstruse Vorstellung einer angemessenen Garderobe schon länger kannte, passten sie irritierenderweise trotzdem gut ins Bild.

„Ich nehme nicht an, dass du mit jemandem ausgehen willst, mit dem du schon aus warst?“, umschiffte ich behutsam das Thema Selina.

„Mache ich auf dich den Eindruck, als litte ich unter fortgeschrittenem Wahnsinn?“, fragte er schnippisch zurück.

Ich nickte und er trat mir gegen das Schienbein.

„Nein“, sagte er. „Mit Shela.“

„Wie, mit Shela? Sie geht aus? Nach dem, was du erzählt hast, klang so was bisher doch eher unwahrscheinlich. Wie hast du das geschafft?“

„Na ja“, meinte er und wand sich ein wenig. „Ich müsste sie natürlich vorher noch fragen.“

Es war komplett ausgeschlossen, nicht in hemmungsloses Gelächter auszubrechen. Ehrlich. Er wartete geduldig, bis ich fertig war und fragte: „Also was ist nun?“

Da es ihm offensichtlich ernst war, widmete ich mich der Frage und sagte: „Du siehst in der Tat für deine Verhältnisse ziemlich normal aus. Von mir aus kannst du aber auch ein Kleid anziehen, das wäre okay für mich.“

„Weiß ich. Und Shela?“

„Ich kenne sie ja nun nicht, aber wenn ich mal so von der Durchschnittsfrau ausgehe, würde ich mir an deiner Stelle eventuell trotzdem andere Schuhe anziehen“, grinste ich.

Stirnrunzelnd betrachtete er seine Füße. „Wenn du meinst. Wieso?“

„Ach“, sagte ich. „Behalte sie an. Wenn sie dich haben will, muss sie so oder so mit deinem Klamottengeschmack klarkommen. Außerdem ist sie vermutlich ohnehin längst mit deinem Anblick vertraut, oder?“


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