»Karl, tun Sie
das nicht!« Bens Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. Hilflos warf er einen
Blick über die Schulter auf seine Kollegen, die allerdings ähnlich überfordert
wirkten wie er. Großartig. Warum war er doch gleich so schnell die Alutreppen
dieses stillgelegten Teils der Fabrik hochgerannt? Damit er Karl nun am
nächsten stand und es versaute? Ganz toll hinbekommen.
Er räusperte sich
und machte einen zögerlichen Schritt nach vorne. Sein Gegenüber reagierte
sofort und trat näher an die Schwelle zum Abgrund hinter ihm. Das Quietschen
seiner Gummisohle auf dem Beton hallte in Bens Gehirn nach. Ein kaltes Grinsen
lag auf Karls Gesicht, eine Spur von Wahnsinn blitzte in seinen Augen auf.
Er macht ernst!, schoss es Ben durch den Kopf. Der Druck
in seinem Bauch erhöhte sich und brachte seinen Körper zum Beben.
Du musst etwas
tun!
Aber was? Das war
sein erster Einsatz als Kommissar! Wie sollte er wissen, was er dem Mann
erzählen musste? In Gedanken ging er seine theoretischen Kenntnisse durch, die
er sich in der Ausbildung angeeignet hatte. Damals hatte er sich genau diese
Situation herbeigewünscht, um als strahlender Held daraus hervorzugehen. Ja,
Probleme mit Minderwertigkeitskomplexen hatte er da nicht gehabt. Nun stand er
hier und war überfordert wie nie zuvor in seinem Leben.
Dieses Anstarren
brachte ihn nicht weiter. Langsam hob er die Hände – und ließ sie wieder
sinken. Karl und auch seine Kollegen mussten nicht sehen, wie sehr sie
zitterten. »Kommen Sie schon, lassen Sie uns reden. Weg kommen Sie hier sowieso
nicht mehr und sterben wollen Sie doch nicht wirklich, oder? Es findet sich
immer eine Lösung.«
Karl hob die
Augenbraue und lachte lauthals los. »Der war gut!« Schlagartig wurde er wieder
ernst. »Kleiner, was bist du denn für ein Bulle? Kennst du die Strafen für Mord
nicht? Ich habe die Wahl zwischen lebenslänglich für die sieben Leichen oder zu
springen. Was glaubst du, welchen Weg ich wählen werde?«
Ben schluckte
schwer, er hatte keine Ahnung, was er darauf erwidern sollte. Warum zum Teufel
kam von den anderen nichts? Erneut warf er einen flehenden Blick zurück, aber
wer ihn nicht ignorierte, zuckte mit den Schultern. Verdammter Mist! Die
konnten ihn doch jetzt nicht hängen lassen!
Doch. Konnten
sie. Und sie taten es auch, als Karl einen weiteren Schritt nach hinten machte.
Der Beton war zu Ende. Ebenso wie das Geländer, an dem er sich notfalls noch
hätte festhalten können.
Tu endlich was!
Aber ihm fiel
nichts ein, was er machen oder sagen könnte. Zumal er den Kerl verstehen
konnte. An seiner Stelle hätte er nur eine Sache anders gemacht: Er hätte nicht
gezögert.
Karl gab ihm die
Chance, ihn aufzuhalten. Ihn festzunehmen, dorthin zu bringen, wo er hingehörte
… hinter schwedische Gardinen. Und die würde er nutzen. Da ihm die Worte
fehlten, konnte er nur noch handeln. Er atmete tief durch und spurtete los.
Fünf, vielleicht sechs Schritte lagen zwischen ihnen. Schnell gemacht. Er
musste ihn nur passend am Kragen erwischen. Gleichzeitig mit der anderen Hand
das Geländer umklammern, damit sie nicht beide abstürzten. Das war zu schaffen!
Noch zwei
Schritte. Er streckte die Arme aus. Einen in Karls Richtung, die andere Hand
schwebte über dem Metallrohr. Er musste nur zugreifen, sobald er seinen Kragen
hatte.
Noch ein Schritt.
Warum kam er nicht näher?
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