Mittwoch, 2. November 2022

[Schnipseltime] Die Insel der flüsternden Felsen - Der Fluch des Goldes von Anne Willsch

 

Textausschnitt 1:

„Mit der Magie war es in Kratonien so eine Sache. Sie war – wie sollte man sagen – mancherorts aus der Mode gekommen. Sicher hatte es Zeiten gegeben, in denen das anders gewesen war und in denen es noch etwas wert gewesen war andersartige Fähigkeiten zu besitzen. Doch inzwischen galten Hexereien bei Völkern, die sich selbst das Prädikat „fortschrittlich“ verliehen, als etwas Steinzeitliches (und in diesem Zusammenhang war die Silbe Stein- ausnahmsweise einmal nichts Positives).

Obwohl Magie kein altes Kleidungsstück war, das man einfach ablegen konnte, sprang man bei den Zwergen und Steinlingen nun genauso damit um: Wer sich für kultiviert hielt und nichts mehr mit mystischen Zwischenwelten zu tun haben wollte, packte die Magie in einen Karton, verfrachtete sie auf den Dachboden oder vergrub sie im tiefsten Schacht des Gebirges. Im Vorübergehen konnte man deshalb durchaus annehmen, dass die Zauberei aus Kratonien voll und ganz verschwunden war – doch dem war nicht so. Sie hatte sich einfach nur in entlegenere Gebiete, in die wilde Peripherie, zurückgezogen und sich in den Tränken nebulanischer Kupferkessel und den weiß-grauen Bärten schotterländi­scher Druiden versteckt (...)“

 

Textausschnitt 2:

„Es gab wohl kaum jemanden auf der Insel der flüsternden Felsen, der jenes Gefühl nicht kannte. Das Gefühl der vollkommenen Schwerelosigkeit, des absoluten Losgelöstseins. Ein Gefühl ohne Zeit und Raum, ohne Hunger oder Müdigkeit. Ein Zustand, in den jeder Zwerg, jeder Steinling und jeder Troll eintauchte, sobald er sich auf die Suche nach den Kostbarkeiten des Gebirges machte. Ein magisches Stadium, das körperliche Strapazen und die stets präsente Gefahr einfach verschwinden ließ. Eine Empfindung, die der eines Rausches ähnelte, für die aber weder Bernsteinbier, malachischer Süßwein noch Met notwendig waren. Eine Obsession, die in explosiver Verzückung gipfelte, wenn der Besessene nach Sonnen, Monden oder gar Jahren des Suchens endlich das Objekt der Begierde, den kristallenen Segen oder den glitzernden Lohn in seinen Händen hielt. Ein vergeudetes Leben für einen kurzen Moment des zufriedenen Lächelns mochte man meinen, denn eines war klar: Das Gefühl war gierig und kannte kein Ende.“

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