Etwa eine Stunde später, kurz bevor wir Clonmacnoise erreichten, wühlte ich
meinen Reiseführer aus den unendlichen Tiefen meines Rucksackes. Ich wollte
wenigstens ein bisschen vorbereitet sein und überflog kurz den Abschnitt über
Clonmacnoise.
Direkt an
einer Biegung des Flusses Shannon befinden sich auf der Kuppe eines flachen
Hügels die traumhaft malerischen Ruinen der alten Klosteranlage. Clonmacnoise –
die Mitte von Irland!
Ich vertiefte mich immer mehr in die Geschichte
des Gründers und des Klosters. Obwohl ich nicht die geringste Lust auf
irgendeine Aktivität hatte, musste ich mir eingestehen, dass mich die
Geschichte fesselte. Außerdem war es eine willkommene Ablenkung zu den, ewig um
Ben kreisenden, trüben Gedanken. Inzwischen hatte Hans einen Parkplatz gefunden
und den Bus hineinmanövriert. Kaum hatte er den Motor abgestellt, herrschte um
mich herum die übliche Hektik, denn jeder wollte den Bus möglichst als erstes
verlassen. Was auch immer man mit diesen wenigen Minuten des Vorsprungs machen
konnte, blieb mir ein Rätsel? Ich blieb währenddessen auf meinem Sitz und
beobachtete verständnislos das emsige Treiben um mich herum. Im Stillen betete
ich, dass alle den Bus unverletzt verlassen würden. Horst rammte versehentlich,
beim Versuch seinen Rucksack im Mittelgang auf den Rücken zu schwingen, diesen
Lilly ins Gesicht. Was sie natürlich augenblicklich dazu veranlasste, Horst mit
den wildesten Beschimpfungen anzuschreien. Neugierig, wer den verbalen
Zweikampf gewinnen würde, versuchte ich an Wallis grauer Dauerwellenpracht
vorbei einen Blick in den Mittelgang zu werfen. Auf keinen Fall wollte ich das
sich uns darbietende Wortgefecht zwischen Lilly und Horst verpassen. Bis Hans
schließlich schlichtend eingriff. Ich befand, dass Clonmacnoise schon nicht
weglaufen würde und so war ich die Letzte, die den Bus verließ. Draußen atmete
ich erstmal tief die klare, raue Luft ein und ließ mir den Wind um die Nase
wehen. Hans hatte uns noch ein paar Tipps mit auf den Weg gegeben. So wusste
ich, dass im Besucherzentrum ein Film über die Geschichte der Anlage gezeigt
wurde und einige Ausgrabungsstücke zu sehen waren. Da ich keine große Lust
hatte, meine Zeit mit einem Film zu verbringen, ging ich direkt in Richtung
Kloster. Das erste was ich erblickte, war die dunkle Ruine einer Burg, die aus
den Uferwiesen emporragte. Ich schlenderte langsam weiter. Vorbei an den vielen
alten Grabsteinen und Hochkreuzen. Groß und grau ragten sie in den inzwischen
wieder blau gewordenen Himmel. Die verwitterten Grabsteine waren in all den
Jahren moosbewachsen und standen über den gesamten Hügel verstreut. Alles in
allem eigentlich kein sehr spektakulärer Anblick. Und doch hatte dieser Ort
etwas Besonderes. Ich stand inmitten der alten Grabstätten und ließ meinen
Blick schweifen. Am Fuße des Hügels, hinter all den Kreuzen fließt der Shannon
und ich konnte mich nicht von dem Gefühl frei machen, dass dieser Ort etwas
Magisches, etwas Mystisches an sich hatte. Ich konnte nicht beschreiben, was
genau es war. Ich glaube man musste selbst einmal hier gestanden haben, um es
zu verstehen. Während ich zwischen den Steinkreuzen langging, bewunderte ich
die zahlreichen Verzierungen. Besonders an einem befand sich reichlich
figürlicher und ornamentaler Schmuck. Darüber hatte ich doch vorhin gelesen.
Ich wühlte in meinem Rucksack nach dem Reiseführer, blätterte zur
entsprechenden Seite und suchte den Abschnitt. Ja, hier stand es. Es musste
sich um das Inschriftenkreuz handeln. Nachdem ich zum ersten Mal seit Tagen
wieder ein paar Fotos gemacht hatte, schlenderte ich weiter, bis ich
schließlich am Ufer des Shannon ankam. Ich drehte mich um und sah gerade noch,
wie die untergehende Sonne langsam hinter der Klosteranlage verschwand. Hier
ist es also! Hier ist die Mitte Irlands! Bis hierher hatte ich es also
geschafft!
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