Dienstag, 28. Juni 2022

[Schnipseltime] Das Glück liegt auf der Straße von Barbara Dell

 

Etwa eine Stunde später, kurz bevor wir Clonmacnoise erreichten, wühlte ich meinen Reiseführer aus den unendlichen Tiefen meines Rucksackes. Ich wollte wenigstens ein bisschen vorbereitet sein und überflog kurz den Abschnitt über Clonmacnoise.

Direkt an einer Biegung des Flusses Shannon befinden sich auf der Kuppe eines flachen Hügels die traumhaft malerischen Ruinen der alten Klosteranlage. Clonmacnoise – die Mitte von Irland!

Ich vertiefte mich immer mehr in die Geschichte des Gründers und des Klosters. Obwohl ich nicht die geringste Lust auf irgendeine Aktivität hatte, musste ich mir eingestehen, dass mich die Geschichte fesselte. Außerdem war es eine willkommene Ablenkung zu den, ewig um Ben kreisenden, trüben Gedanken. Inzwischen hatte Hans einen Parkplatz gefunden und den Bus hineinmanövriert. Kaum hatte er den Motor abgestellt, herrschte um mich herum die übliche Hektik, denn jeder wollte den Bus möglichst als erstes verlassen. Was auch immer man mit diesen wenigen Minuten des Vorsprungs machen konnte, blieb mir ein Rätsel? Ich blieb währenddessen auf meinem Sitz und beobachtete verständnislos das emsige Treiben um mich herum. Im Stillen betete ich, dass alle den Bus unverletzt verlassen würden. Horst rammte versehentlich, beim Versuch seinen Rucksack im Mittelgang auf den Rücken zu schwingen, diesen Lilly ins Gesicht. Was sie natürlich augenblicklich dazu veranlasste, Horst mit den wildesten Beschimpfungen anzuschreien. Neugierig, wer den verbalen Zweikampf gewinnen würde, versuchte ich an Wallis grauer Dauerwellenpracht vorbei einen Blick in den Mittelgang zu werfen. Auf keinen Fall wollte ich das sich uns darbietende Wortgefecht zwischen Lilly und Horst verpassen. Bis Hans schließlich schlichtend eingriff. Ich befand, dass Clonmacnoise schon nicht weglaufen würde und so war ich die Letzte, die den Bus verließ. Draußen atmete ich erstmal tief die klare, raue Luft ein und ließ mir den Wind um die Nase wehen. Hans hatte uns noch ein paar Tipps mit auf den Weg gegeben. So wusste ich, dass im Besucherzentrum ein Film über die Geschichte der Anlage gezeigt wurde und einige Ausgrabungsstücke zu sehen waren. Da ich keine große Lust hatte, meine Zeit mit einem Film zu verbringen, ging ich direkt in Richtung Kloster. Das erste was ich erblickte, war die dunkle Ruine einer Burg, die aus den Uferwiesen emporragte. Ich schlenderte langsam weiter. Vorbei an den vielen alten Grabsteinen und Hochkreuzen. Groß und grau ragten sie in den inzwischen wieder blau gewordenen Himmel. Die verwitterten Grabsteine waren in all den Jahren moosbewachsen und standen über den gesamten Hügel verstreut. Alles in allem eigentlich kein sehr spektakulärer Anblick. Und doch hatte dieser Ort etwas Besonderes. Ich stand inmitten der alten Grabstätten und ließ meinen Blick schweifen. Am Fuße des Hügels, hinter all den Kreuzen fließt der Shannon und ich konnte mich nicht von dem Gefühl frei machen, dass dieser Ort etwas Magisches, etwas Mystisches an sich hatte. Ich konnte nicht beschreiben, was genau es war. Ich glaube man musste selbst einmal hier gestanden haben, um es zu verstehen. Während ich zwischen den Steinkreuzen langging, bewunderte ich die zahlreichen Verzierungen. Besonders an einem befand sich reichlich figürlicher und ornamentaler Schmuck. Darüber hatte ich doch vorhin gelesen. Ich wühlte in meinem Rucksack nach dem Reiseführer, blätterte zur entsprechenden Seite und suchte den Abschnitt. Ja, hier stand es. Es musste sich um das Inschriftenkreuz handeln. Nachdem ich zum ersten Mal seit Tagen wieder ein paar Fotos gemacht hatte, schlenderte ich weiter, bis ich schließlich am Ufer des Shannon ankam. Ich drehte mich um und sah gerade noch, wie die untergehende Sonne langsam hinter der Klosteranlage verschwand. Hier ist es also! Hier ist die Mitte Irlands! Bis hierher hatte ich es also geschafft!


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Mit dem Abschicken des Kommentars bin ich mit den Datenschutzrichtlinien des Blogs einverstanden.