Montag, 10. Januar 2022

[Schnipseltime] Gebannt - Ich lese es in deinen Augen von Kara Rohe

 



Der Boden unter mir ist hart und unnachgiebig, sein Gewicht lastet auf mir und ich bekomme kaum Luft. Er nimmt einen Finger und fährt damit über meine Lippen. Er küsst mich nicht, er zieht mich nicht aus, er will nur eines und das schnell. Es dauert nicht lange, aber es ist schmerzhaft. Ich spüre, wie mir das Blut den Oberschenkel hinunterläuft.

Viel zu oft besucht er mich in meinen Gedanken und Träumen. Viel zu oft bin ich wehrlos – auch dieses Mal.

Verzweifelt, weil ich nur will, dass es aufhört, greife ich wieder einmal zu der Klinge unter meiner Matratze. Als meine Finger den kalten Stahl spüren, wird sein Gesicht blasser. Der erste Schnitt und ich spüre die Schmerzen nicht mehr. Der zweite Schnitt und sein Keuchen ist verschwunden. Der dritte Schnitt und ich kann wieder atmen. Der vierte Schnitt, die heiße Atemluft an meinem Hals ist wieder die kühle Nachtluft in meinem Zimmer. Der fünfte Schnitt, sein Finger verschwindet von meinen Lippen. Der sechste Schnitt, der harte Boden in meinem Rücken verwandelt sich zurück in mein weiches Kissen. Der siebte, achte, neunte, zehnte, elfte Schnitt. Die Verzweiflung bleibt.

„HÖR ENDLICH AUF DAMIT!“, schreit mein Kopf – in dem Wissen, dass es diesmal nicht nur um frische Wunden, sondern um das Verstecken vor Marcus geht.

„Ich kann nicht!“, flüstere ich und lasse die Klinge wieder und wieder über meinen Arm und meinen Schenkel gleiten. So lange, bis ich nichts mehr, als ein dumpfes Dröhnen in meinem Kopf höre und endlich wieder schlafen kann.


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