Montag, 14. Juli 2025

[Schnipseltime] Plastic Girls von Tessa Maelle


 

Plastic Girls

Sie spürte das harte Holz der Reling auf ihren Hüftknochen prallen. Sie spürte einen flammenden Schmerz an ihrer linken Kniescheibe. Sie spürte, wie sich ein Schrei aus ihrem Mund löste. Dann kippte die Welt aus den Angeln.

Die Kälte traf ihren Körper wie ein eisiger Guss nach einem Saunagang. Alle Muskeln zogen sich auf einen Schlag zusammen und quetschten die Luft aus ihren Lungen. Wasser drang in ihre Nasenlöcher, in ihre Augen und in ihre Ohren. Instinktiv presste sie die Lippen aufeinander. Sie wirbelte umher. Kopfüber, kopfunter.

Luft!

Sie zappelte mit den Beinen und ruderte mit den Armen.

Luft!

Der Druck in ihren Lungen stieg hoch in ihr Gehirn und ließ sie noch verzweifelter strampeln.

Nach oben. Du musst nach oben!

Der Drang zu atmen wurde übermächtig, kroch in ihrem Bewusstsein bis in den hintersten Winkel und implodierte tonlos.

Merkwürdigerweise erleichterte sie die Gewissheit, dass sie genau in dieser Minute sterben würde.

Sterben.

Sie hielt inne.

Lass los, dann hast du es hinter dir. Es geht ganz schnell. Du musst nur loslassen.

Linas Bild stieg in ihr auf: Der erste Blick aus den Augen ihres neugeborenen Babys.

… wie sie da lag, auf meinem Bauch, so weich, so wundersam …

Heiße Entschlossenheit durchströmte schlagartig ihre Adern.

Nein, das kann noch nicht alles gewesen sein.

Zwei kräftige Schwimmzüge und endlich durchbrach sie die Wasseroberfläche. Sie spuckte und prustete, japste nach Luft und spürte, wie sich ihre Lungen wieder mit Sauerstoff füllten. Prompt schlug eine Welle über ihrem Kopf zusammen. Wieder atmete sie Salzwasser ein. Das Salz brannte in ihren Augen und in ihrer Lunge. Erneut kämpfte sie sich zurück an die Oberfläche und schnappte nach Luft. Als die nächste Welle heranrollte, war sie vorbereitet. Sie passte ihre Schwimmbewegungen den Wassermassen an und gelangte über den Kamm. Jetzt hatte sie einen Rhythmus gefunden. Sie schwamm im Kreis und suchte das Boot. Sie konnte kaum etwas erkennen, ihre Augen waren voller Wasser oder voller Tränen – es war ihr egal.

Da. Ein dunkler Schatten. Sie hielt inne. Das Motorboot.

Erneut brach eine Welle über ihrem Kopf zusammen. Verzweifelt versuchte sie, ihr Gesicht über der Wasseroberfläche zu halten.

Das Boot fuhr einfach weiter.

»Bleib hier! Tu das nicht!«, brüllte sie gegen Wind, Gischt und Panik an. »Komm zurück!«

Sie schrie sich die Seele aus dem Leib.

Die einzige Antwort war das Dröhnen des Bootes. Der Motor jaulte noch einmal auf, dann wurde das Brummen leiser und gleichmäßiger. Die schwarze Silhouette an Deck wurde kleiner und kleiner, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen.

»Bitte! Bi…tte …«

Sie kämpfte sich weiter durch die Wellen, dem rettenden Boot hinterher.

Sie will mich töten, sie will mich ernsthaft töten!

Das hatte sie nicht kommen sehen.

Als sie das Motorboot nur noch schemenhaft ausmachen konnte, gab sie erschöpft auf. Allmählich dämmerte ihr, was geschehen war.

Sie hat mich über Bord gestoßen.

Sie blickte dem Boot hinterher.

Ein schwarzer Umriss.

Ein schwarzer Punkt.

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