
Plastic Girls
Sie spürte das harte Holz der Reling auf ihren Hüftknochen prallen. Sie
spürte einen flammenden Schmerz an ihrer linken Kniescheibe. Sie spürte, wie
sich ein Schrei aus ihrem Mund löste. Dann kippte die Welt aus den Angeln.
Die Kälte traf ihren Körper wie ein
eisiger Guss nach einem Saunagang. Alle Muskeln zogen sich auf einen Schlag
zusammen und quetschten die Luft aus ihren Lungen. Wasser drang in ihre
Nasenlöcher, in ihre Augen und in ihre Ohren. Instinktiv presste sie die Lippen
aufeinander. Sie wirbelte umher. Kopfüber, kopfunter.
Luft!
Sie zappelte mit den Beinen und
ruderte mit den Armen.
Luft!
Der Druck in ihren Lungen stieg
hoch in ihr Gehirn und ließ sie noch verzweifelter strampeln.
Nach oben. Du musst nach oben!
Der Drang zu atmen wurde
übermächtig, kroch in ihrem Bewusstsein bis in den hintersten Winkel und
implodierte tonlos.
Merkwürdigerweise erleichterte sie
die Gewissheit, dass sie genau in dieser Minute sterben würde.
Sterben.
Sie hielt inne.
Lass los, dann hast du es
hinter dir. Es geht ganz schnell. Du musst nur loslassen.
Linas Bild stieg in ihr auf: Der
erste Blick aus den Augen ihres neugeborenen Babys.
… wie sie da lag, auf meinem
Bauch, so weich, so wundersam …
Heiße Entschlossenheit durchströmte
schlagartig ihre Adern.
Nein, das kann noch nicht alles
gewesen sein.
Zwei kräftige Schwimmzüge und
endlich durchbrach sie die Wasseroberfläche. Sie spuckte und prustete, japste
nach Luft und spürte, wie sich ihre Lungen wieder mit Sauerstoff füllten.
Prompt schlug eine Welle über ihrem Kopf zusammen. Wieder atmete sie Salzwasser
ein. Das Salz brannte in ihren Augen und in ihrer Lunge. Erneut kämpfte sie
sich zurück an die Oberfläche und schnappte nach Luft. Als die nächste Welle
heranrollte, war sie vorbereitet. Sie passte ihre Schwimmbewegungen den
Wassermassen an und gelangte über den Kamm. Jetzt hatte sie einen Rhythmus
gefunden. Sie schwamm im Kreis und suchte das Boot. Sie konnte kaum etwas
erkennen, ihre Augen waren voller Wasser oder voller Tränen – es war ihr egal.
Da. Ein dunkler Schatten. Sie hielt
inne. Das Motorboot.
Erneut brach eine Welle über ihrem
Kopf zusammen. Verzweifelt versuchte sie, ihr Gesicht über der Wasseroberfläche
zu halten.
Das Boot fuhr einfach weiter.
»Bleib hier! Tu das nicht!«,
brüllte sie gegen Wind, Gischt und Panik an. »Komm zurück!«
Sie schrie sich die Seele aus dem
Leib.
Die einzige Antwort war das Dröhnen
des Bootes. Der Motor jaulte noch einmal auf, dann wurde das Brummen leiser und
gleichmäßiger. Die schwarze Silhouette an Deck wurde kleiner und kleiner, ohne
sich noch einmal nach ihr umzudrehen.
»Bitte! Bi…tte …«
Sie kämpfte sich weiter durch die
Wellen, dem rettenden Boot hinterher.
Sie will mich töten, sie will
mich ernsthaft töten!
Das hatte sie nicht kommen sehen.
Als sie das Motorboot nur noch
schemenhaft ausmachen konnte, gab sie erschöpft auf. Allmählich dämmerte ihr,
was geschehen war.
Sie hat mich über Bord
gestoßen.
Sie blickte dem Boot hinterher.
Ein schwarzer Umriss.
Ein schwarzer Punkt.
.
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