Annrai verließ das Zelt mit hocherhobenem Kopf.
Sie würde den Männern nicht die Genugtuung geben, ihre Gefühle zu offenbaren.
Am Ende hatte sie sich selbst in diese missliche Lage gebracht.
Ohne sich umzusehen, passte
sie ihre Schritte an die ihres Gefangenen an und nahm ihm das Gewicht der
Ketten ab. Nichts entschuldigte die Folter, die er erlitten hatte, zum Spaß,
wie sie annahm.
Draußen untersuchte sie die
Schellen an seinen Handgelenken und fluchte erneut. Sie hielt auf die nächste
Schmiede zu, weckte den Handwerker und befahl ihm, die Fesseln zu entfernen.
Der Mann schaute sie
verschlafen an, riss dann die Augen auf und setzte sich hastig in Bewegung.
Im Lager gab es kaum Frauen,
und Annrai konnte man nicht verkennen. Die Narben auf ihrer Wange zeichneten
sie, der Ruf einer Bestie eilte ihr voraus. Jetzt war sie dankbar dafür, denn
es ersparte langes Bitten. Mit Meißel und Hammer zerschlug er die Splinte.
»Danke!«, sagte sie und
reichte ihm eine Silbermünze als Lohn.
Den Verletzten zu stützen,
wagte Annrai nicht, um seine Schmerzen nicht zu verschlimmern. Seine Füße
schleiften kraftlos über den Boden, sie roch frisches Blut. »Wir sind gleich
da.«
Im eigenen Lager erteilte sie
im Vorbeigehen Befehle. Annrai schlug die Zeltplane zur Seite und ließ Loris
eintreten. Sie deutete auf den Hocker, der vor ihrem Schreibtisch stand. »Setz
dich!«
Kiran schleppte einen Eimer
Wasser herein. Unter dem Arm trug er ein Stoffbündel und in der anderen Hand
ein kleines Kochgeschirr.
»Danke. Geh schlafen, ich
möchte dich morgen früh hier sehen.«
Er verneigte sich und
verschwand.
Mit ihrem Dolch zerteilte
Annrai Loris’ Tunika und hielt den Atem an. Sein Oberkörper war von alten und
neuen Wunden bedeckt, Brandspuren, Stiche und Schnitte. Das flaue Gefühl im
Magen verstärkte sich, als sie den sitzenden Mann umrundete. Aus schmalen Augen
begutachtete sie mehrere runde Verletzungen, an deren Rändern sie Zahnabdrücke
erkannte. Jemand hatte ihn gebissen und Fetzen seines Fleisches herausgerissen.
Die meisten Sorgen bereiteten
ihr die ausgerenkten Schultergelenke. Sie fragte sich, wie er es schaffte,
nicht vor Schmerzen zu schreien.
Wieder vor ihm angekommen,
hockte sie sich hin und wartete, bis er sie ansah. »Ich kann dir helfen, aber
du musst mir versprechen, nicht zu fliehen. Es wäre auch nett, wenn du nicht
versuchst, mich zu töten.«
In seinem Gesicht
widerstritten unterschiedliche Gefühle, er presste die Lippen aufeinander und
schwieg.
»Hast du mich verstanden?«
Es schien, als brauchten ihre
Worte eine Ewigkeit, um durch den Nebel aus Qual zu ihm zu dringen. Er nickte.
»Leg dich auf den Boden.«
Regungslos verharrte er.
Langsam verlor Annrai die
Geduld, sie hatte einen langen Tag hinter sich, und was sie vorhatte, würde sie
den Rest ihrer Kraft kosten. »Wir sind uns ein paarmal begegnet, ich achte
dich. Aber ich bin heute nicht zu Spielen aufgelegt.«
»Dann töte mich.« Seine Stimme
klang matt.
»Das klingt verlockend«,
versetzte sie und schauderte. Seit ihrer letzten Begegnung war aus dem
selbstbewussten Krieger ein Häufchen Elend geworden. »Die Könige wollen dich am
Leben sehen. Ihre Strafe gilt mir, nicht dir. Ich muss deine Schultern einrenken.
Das ist einfacher, wenn du liegst.«
»Was willst du von mir?«,
fragte Loris heiser. »Ich werde nicht für dich schreien! Nie wieder!«
Hasserfüllt blickte er sie an, sein Körper zitterte, tiefrote Flecken bildeten
sich auf seinen Wangen, die Augen glänzten fiebrig.
Annrai legte ihm eine Hand auf
die Stirn. Die Hitze bestätigte ihre Vermutung, er halluzinierte.
Panisch wehrte er sich gegen
die Berührung und sprang auf. Es knirschte bedrohlich in seinen Gelenken, als
er sie ungeschickt angriff.
Mit einem Fausthieb unters
Kinn setzte sie Loris außer Gefecht und hielt ihn fest. Vorsichtig ließ sie ihn
zu Boden gleiten und ächzte unter dem Gewicht. Sie renkte seine Schultern ein,
ohne dass er erwachte.
Eigentlich sollte sie seine
Arme fixieren, die Wunden säubern und der Natur ihren Lauf lassen. Doch die
Vorstellung brannte wie Weitmarks Feuer in ihrem Bauch. Er hatte genug
gelitten, die Panik in seinen Augen legte beredtes Zeugnis davon ab. Das Leid anderer
traf sie stets mehr als ihr eigenes.
Automatisch bettete sie die
Hand auf seiner Brust und flüsterte: »Schmerz werde zu meinem.«
Unter der Handfläche spürte
sie ein heftiges Pochen. Loris’ Herz schlug hart und schnell, glücklicherweise
hielt die Ohnmacht an.
»Wunden werden heilen. Der Tod
kann nicht verweilen. Mit meiner Macht gebe ich dir die Kraft.« Sie atmete tief
ein und wappnete sich. »Den Preis für dies Streben bin ich bereit zu geben.«
Der Schmerz überfiel Annrai
wie ein wütendes Raubtier und warf sie zu Boden. Sie hatte geahnt, dass diese
Heilung qualvoll werden würde, doch nicht so grausam. Krampfhaft kämpfte sie
dagegen an, das Bewusstsein zu verlieren. Allein mit ihrem Feind …
Loris setzte sich auf und
kroch heran. Sein Gesicht kam ihrem erschreckend nah. Sie hatte sich ihm
ausgeliefert. Vielleicht bestand darin der Plan. Er würde sie töten und niemand
konnte einem anderem als einem Sklaven die Schuld geben.
Verzweifelt mühte sie sich,
ihre Arme zu bewegen. Muskeln verkrampften, bogen ihre Glieder, ihr Rücken
wölbte sich. Nicht einmal ihre Stimmbänder gehorchten, der Schrei verlegte ihr
die Kehle, sie bekam kaum Luft. Feuchtigkeit rann über ihre Wangen.
»Mach den Mund auf!« Die
Stimme klang von weit her. Etwas wurde gegen ihre Lippen gepresst. Sie biss auf
ein Lederstück.
»Das hättest du nicht tun
dürfen«, flüsterte Loris. »Nicht für mich.«
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