
Das Geheimnis des Lebens liegt im Verborgenen.
Indem der Mensch danach trachtet es zu beherrschen,
wird er es verlieren.
Während der Gefangene
wachte, schlief der Gestrandete. Im Schlaf reiste er durch die Traumlande. Er
war der Wanderer zwischen den Ebenen, der Reisende, auf der Suche nach dem
Ursprung, den er verloren hatte.
Die Geschöpfe der Realitäten, die er bereiste, gaben ihm unterschiedliche
Namen. Seinen Wahren hatte er längst vergessen. Er war der Erbauer der
Traumebene, ein Same des Lebens. Und sie, die Lamashtu, die ihm folgte, war
eine Saat des Todes, die andere Seite der Medaille.
Einst waren sie eins, im Urgewässer, im Nichts, in dem das Eine ruhte, das
immer schon war und doch noch nicht ist. Sie kannten das Eine, den Ursprung,
der alles gebar. Denn sie waren wie Leben und Tod, zwei Kinder des Einen und
irgendwo dazwischen befanden sich die Traumlande, die sämtliche Ebenen und
Dimensionen verbanden.
Er schlief, als der Junge seine neu gewonnenen Kräfte nutzte, um sich zu
befreien. Bald würde er sein Versprechen einlösen und damit werden wie er, ein
Wanderer zwischen den Welten. Shar’dag war seine Heimat, wohingegen die des
Gestrandeten, im Außen lag.
Kapitel
1
Als Yinghao seine Augen aufschlug, sah er im ersten
Moment nichts, außer Dunkelheit. Er spürte eisige Metallfesseln an seinen
Handgelenken und Nadeln, die in seine Haut stachen. In der Ferne vernahm er
Stimmen. Sie rauschten in seinen Ohren. Langsam wich die Finsternis.
Grünes Neonlicht blendete ihn, zwang ihn,
seine Augen wieder zu schließen. Eine Hand berührte seinen Arm. Sein Herz
klopfte schnell gegen seine Brust. Ein Zittern lief durch seinen Körper. Jemand
beugte sich über ihn.
»Du hast es für heute überstanden.« Doktor
Baos Stimme klang weit entfernt, trotz der räumlichen Nähe, die zwangsläufig
entstand, wenn sie die Nadeln aus seiner Haut zog.
Yinghao wusste nicht, was sie ihm spritzte.
Es genügte die Wirkung, die die Substanz erzielte. Sie arbeitete in ihm,
veränderte ihn, kämpfte gegen seine Zellen. Zeitweise neutralisierte es das
Beruhigungsmittel. Das befähigte ihn, aufzubegehren. Vorsichtig blinzelte er in
das grüne Licht der Deckenbeleuchtung. Doktor Bao entfernte die Nadeln und
versorgte die wunden Einstichstellen.
Yinghao atmete schwer. Die Wissenschaftlerin
hielt inne. Sanft strich sie über seine Wange. »Bald darfst du dich erholen,
mein Junge.« Mit der anderen Hand nahm sie die Inhalationsmaske von der Ablage,
neben dem Operationstisch.
Yinghao wollte etwas sagen. Seine Lippen
blieben versiegelt. Ein Dunstschleier benebelte seine Sinne. Er tauchte ein in
den Abgrund, aus dem es kein Entrinnen gab. Es würde immer so weitergehen,
schlafen, erwachen, realisieren und wieder in den Dämmerzustand sinken.
Zwischenzeitlich erinnerten ihn die Schmerzen an die Schrecken der sich endlos
wiederholenden Experimente.
Wenn seine Muskeln erschlafften, glaubte er
bisweilen in der Ferne eine leise Melodie zu hören. Sie glättete die Wogen,
erlaubte ihm für den Augenblick, zu vergessen. Diesmal waren da nur Stille und
Schweigen. Dunkelheit umhüllte ihn, zog ihn tiefer, bis er eins wurde mit der
Finsternis.
Später, er konnte nicht abschätzen, wie viel Zeit
vergangen war, hörte er ein Rascheln zu seiner Rechten. Er reagierte nicht. In
der Ferne sprach jemand. Yinghao ignorierte es. Da war es wieder, das Geräusch,
gefolgt von einem Knacken. Darauf folgte die Stimme. Irgendetwas zerbrach. Dann
war da ein Knirschen, wie Metall, das gewaltsam auseinander gedrückt wurde.
Wahrscheinlich hatte Doktor Bao etwas vergessen, war zurückgekommen, um
weiterzumachen.
Sie würde ihn festschnallen, ihm Schmerz
zufügen. Danach würde er die Melodie hören. Sie würde ihn forttragen, an einen
anderen Ort. Dort konnte er Frieden finden. Doch der Moment ließ sich nicht
festhalten.
Kälte zog durch seine Glieder, lähmte seinen
Geist, bis nur noch ein Pochen und Ziehen blieb, das sich durch seinen gesamten
Körper zog. Er hörte sein Herz schlagen, im Gleichklang mit seinem hastigen
Atem.
Wie lange, fragte er sich, hielt ein Mensch
den Qualen stand, denen er ausgesetzt war. Ein leises Tappen riss ihn aus der
Starre. Er blinzelte. Das Bild, das sich ihm bot, musste ein Wunschtraum sein.
Die Gitterstäbe seiner Zelle waren aufgebogen. Vor ihm kniete eine Gestalt, ein
junger, muskulöser Mann mit kurzen Haaren. Seine Gesichtszüge wirkten vertraut,
die markanten Wangenknochen, dunkelbraunen Augen, in denen ein sanfter Ausdruck
lag.
»Ying«, flüsterte der Fremde. Seine tiefe
Stimme hatte eine beruhigende Wirkung. Zeitverzögert begriff er. Der Ältere war
sein Bruder Hongli. Hongli streckte eine Hand nach ihm aus, berührte seine
Stirn, als wolle er sich auf diese Art versichern, dass er lebte. Yinghao
starrte durch ihn hindurch, unfähig darauf zu reagieren. Seine Gliedmaßen waren
verspannt und taub. Ein leises Grummeln in seiner Magengegend signalisierte
ihm, dass er lange nichts gegessen hatte. Seine Augenlider senkten sich. Er
wollte schlafen und nie mehr aufwachen. Sein Bruder musste ein Trugbild sein.
Weshalb sollte Doktor Bao ihn aus seiner Zelle lassen und wie hätte er sich
befreien sollen?
Da spürte er Hände, die ihn in eine Umarmung
zogen, vom Bett hoben. Hongli trug ihn fort. Doch das Gefühl der Unwirklichkeit
ließ ihn nicht los. Sie waren beide Gefangene auf Lebenszeit. Oder etwa nicht?
Um sich zu vergewissern, dass sein Bruder ein Trugbild war, öffnete Yinghao
seine Augenlider. Da sah er drei Zellen, deren Gitterstäbe zerstört waren. Das
war nicht alles. Neben einem Tisch, auf dem medizinisches Equipment stand,
erblickte er seinen jüngeren Bruder Jianyou. Dessen Augen glänzten grün im matten
Licht einer Lampe. Sein drahtiger Oberkörper war entblößt. Dunkelgrüne Adern
traten unter seiner Haut hervor. Im ersten Moment glaubte Yinghao, dass sie
pulsierten. Irritiert kniff er seine Augen zusammen. Als er sie erneut öffnete,
war sein Bruder noch da. Inzwischen hatte er sich einen schwarzen Mantel
übergezogen. Dieser hatte vermutlich einmal dem Mann gehört, dessen Beine unter
dem Labortisch hervorragten. Dunkelrotes Blut klebte an den Schuhen des Toten.
Es dürfte dasselbe sein, das von dem Schwert tropfte, das Jianyou gerade
einpackte, ein doppelseitiges Windschwert vom Modell T-700, das angeblich in
der Lage war selbst Metall zu schneiden.
Das war kein Traum, das geschah wirklich.
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