Montag, 9. Juni 2025

[Schnipseltime] Schar'dag - Weltenflucht 1 von Chris Norwyn


 

Das Geheimnis des Lebens liegt im Verborgenen.

Indem der Mensch danach trachtet es zu beherrschen,

wird er es verlieren.

 

Während der Gefangene wachte, schlief der Gestrandete. Im Schlaf reiste er durch die Traumlande. Er war der Wanderer zwischen den Ebenen, der Reisende, auf der Suche nach dem Ursprung, den er verloren hatte.

Die Geschöpfe der Realitäten, die er bereiste, gaben ihm unterschiedliche Namen. Seinen Wahren hatte er längst vergessen. Er war der Erbauer der Traumebene, ein Same des Lebens. Und sie, die Lamashtu, die ihm folgte, war eine Saat des Todes, die andere Seite der Medaille.

Einst waren sie eins, im Urgewässer, im Nichts, in dem das Eine ruhte, das immer schon war und doch noch nicht ist. Sie kannten das Eine, den Ursprung, der alles gebar. Denn sie waren wie Leben und Tod, zwei Kinder des Einen und irgendwo dazwischen befanden sich die Traumlande, die sämtliche Ebenen und Dimensionen verbanden.

Er schlief, als der Junge seine neu gewonnenen Kräfte nutzte, um sich zu befreien. Bald würde er sein Versprechen einlösen und damit werden wie er, ein Wanderer zwischen den Welten. Shar’dag war seine Heimat, wohingegen die des Gestrandeten, im Außen lag.


 

Kapitel 1

 

 

Als Yinghao seine Augen aufschlug, sah er im ersten Moment nichts, außer Dunkelheit. Er spürte eisige Metallfesseln an seinen Handgelenken und Nadeln, die in seine Haut stachen. In der Ferne vernahm er Stimmen. Sie rauschten in seinen Ohren. Langsam wich die Finsternis.

Grünes Neonlicht blendete ihn, zwang ihn, seine Augen wieder zu schließen. Eine Hand berührte seinen Arm. Sein Herz klopfte schnell gegen seine Brust. Ein Zittern lief durch seinen Körper. Jemand beugte sich über ihn.

»Du hast es für heute überstanden.« Doktor Baos Stimme klang weit entfernt, trotz der räumlichen Nähe, die zwangsläufig entstand, wenn sie die Nadeln aus seiner Haut zog.

Yinghao wusste nicht, was sie ihm spritzte. Es genügte die Wirkung, die die Substanz erzielte. Sie arbeitete in ihm, veränderte ihn, kämpfte gegen seine Zellen. Zeitweise neutralisierte es das Beruhigungsmittel. Das befähigte ihn, aufzubegehren. Vorsichtig blinzelte er in das grüne Licht der Deckenbeleuchtung. Doktor Bao entfernte die Nadeln und versorgte die wunden Einstichstellen.

Yinghao atmete schwer. Die Wissenschaftlerin hielt inne. Sanft strich sie über seine Wange. »Bald darfst du dich erholen, mein Junge.« Mit der anderen Hand nahm sie die Inhalationsmaske von der Ablage, neben dem Operationstisch.

Yinghao wollte etwas sagen. Seine Lippen blieben versiegelt. Ein Dunstschleier benebelte seine Sinne. Er tauchte ein in den Abgrund, aus dem es kein Entrinnen gab. Es würde immer so weitergehen, schlafen, erwachen, realisieren und wieder in den Dämmerzustand sinken. Zwischenzeitlich erinnerten ihn die Schmerzen an die Schrecken der sich endlos wiederholenden Experimente.

Wenn seine Muskeln erschlafften, glaubte er bisweilen in der Ferne eine leise Melodie zu hören. Sie glättete die Wogen, erlaubte ihm für den Augenblick, zu vergessen. Diesmal waren da nur Stille und Schweigen. Dunkelheit umhüllte ihn, zog ihn tiefer, bis er eins wurde mit der Finsternis.

 

Später, er konnte nicht abschätzen, wie viel Zeit vergangen war, hörte er ein Rascheln zu seiner Rechten. Er reagierte nicht. In der Ferne sprach jemand. Yinghao ignorierte es. Da war es wieder, das Geräusch, gefolgt von einem Knacken. Darauf folgte die Stimme. Irgendetwas zerbrach. Dann war da ein Knirschen, wie Metall, das gewaltsam auseinander gedrückt wurde. Wahrscheinlich hatte Doktor Bao etwas vergessen, war zurückgekommen, um weiterzumachen.

Sie würde ihn festschnallen, ihm Schmerz zufügen. Danach würde er die Melodie hören. Sie würde ihn forttragen, an einen anderen Ort. Dort konnte er Frieden finden. Doch der Moment ließ sich nicht festhalten.

Kälte zog durch seine Glieder, lähmte seinen Geist, bis nur noch ein Pochen und Ziehen blieb, das sich durch seinen gesamten Körper zog. Er hörte sein Herz schlagen, im Gleichklang mit seinem hastigen Atem.

Wie lange, fragte er sich, hielt ein Mensch den Qualen stand, denen er ausgesetzt war. Ein leises Tappen riss ihn aus der Starre. Er blinzelte. Das Bild, das sich ihm bot, musste ein Wunschtraum sein. Die Gitterstäbe seiner Zelle waren aufgebogen. Vor ihm kniete eine Gestalt, ein junger, muskulöser Mann mit kurzen Haaren. Seine Gesichtszüge wirkten vertraut, die markanten Wangenknochen, dunkelbraunen Augen, in denen ein sanfter Ausdruck lag.

»Ying«, flüsterte der Fremde. Seine tiefe Stimme hatte eine beruhigende Wirkung. Zeitverzögert begriff er. Der Ältere war sein Bruder Hongli. Hongli streckte eine Hand nach ihm aus, berührte seine Stirn, als wolle er sich auf diese Art versichern, dass er lebte. Yinghao starrte durch ihn hindurch, unfähig darauf zu reagieren. Seine Gliedmaßen waren verspannt und taub. Ein leises Grummeln in seiner Magengegend signalisierte ihm, dass er lange nichts gegessen hatte. Seine Augenlider senkten sich. Er wollte schlafen und nie mehr aufwachen. Sein Bruder musste ein Trugbild sein. Weshalb sollte Doktor Bao ihn aus seiner Zelle lassen und wie hätte er sich befreien sollen?

Da spürte er Hände, die ihn in eine Umarmung zogen, vom Bett hoben. Hongli trug ihn fort. Doch das Gefühl der Unwirklichkeit ließ ihn nicht los. Sie waren beide Gefangene auf Lebenszeit. Oder etwa nicht? Um sich zu vergewissern, dass sein Bruder ein Trugbild war, öffnete Yinghao seine Augenlider. Da sah er drei Zellen, deren Gitterstäbe zerstört waren. Das war nicht alles. Neben einem Tisch, auf dem medizinisches Equipment stand, erblickte er seinen jüngeren Bruder Jianyou. Dessen Augen glänzten grün im matten Licht einer Lampe. Sein drahtiger Oberkörper war entblößt. Dunkelgrüne Adern traten unter seiner Haut hervor. Im ersten Moment glaubte Yinghao, dass sie pulsierten. Irritiert kniff er seine Augen zusammen. Als er sie erneut öffnete, war sein Bruder noch da. Inzwischen hatte er sich einen schwarzen Mantel übergezogen. Dieser hatte vermutlich einmal dem Mann gehört, dessen Beine unter dem Labortisch hervorragten. Dunkelrotes Blut klebte an den Schuhen des Toten. Es dürfte dasselbe sein, das von dem Schwert tropfte, das Jianyou gerade einpackte, ein doppelseitiges Windschwert vom Modell T-700, das angeblich in der Lage war selbst Metall zu schneiden.

Das war kein Traum, das geschah wirklich.

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