Leseprobe – 1. Kapitel
Juri durfte sich keinen Fehler erlauben. Jedes
Mal, wenn er sich eine Haltestange weiter bewegte, sah er hinter und neben sich.
Die Box durfte nirgends anstoßen. Erst wenn er sicher war, dass nichts den Weg
blockierte, gab er Domas ein Zeichen, der Box einen sanften Stoß zu verpassen.
Sobald er die Box so manövriert hatte, hakte
er sich mit den Füßen in die nächste Haltestange ein, um nicht haltlos
davonzuschweben.
»Stopp.« Juri wartete, bis die Box nahezu
bewegungslos in der Schwerelosigkeit verharrte.
Domas lugte hinter der zwei Meter breiten
Metallbox hervor, doch Juri sah nur den kahlen Kopf des Kommandanten. An Wänden
befestigte Ausrüstung engte das schmale Swesda-Modul zusätzlich ein, so dass
nur wenig Spielraum existierte.
Juri klettete ein Experiment von der Wand zu
seiner Rechten ab und befestigte es über sich. Mit einem Erst-Hilfe-Kit verfuhr
er ebenso.
Sie schwiegen, während Juri Platz machte und
Domas die Box möglichst an Ort und Stelle hielt. Nur das leise Rattern der
Kühl- und Lüftungsanlagen war zu hören.
Schon fast eine Stunde verbrachten sie damit,
die Proben durch die ISS zu transportieren. Die Schwerelosigkeit hob das
Gewicht auf, aber eine unachtsame Bewegung und die Box prallte gegen eine Wand.
Der empfindliche Inhalt erforderte größte Vorsicht.
Morgen verließ der Dream Chaser die ISS und
brachte die Forschungsergebnisse zur Erde. Dafür hatte der Raumgleiter Essen,
Wasser und ausreichend Kleidung zur Raumstation gebracht. Diesmal umfasste die
Fracht mindestens einen ganzen Jahresvorrat an Shirts, Hosen und Unterwäsche.
Das war viel zu viel.
Die durchzuführenden Wartungsarbeiten hatten
zugenommen und somit sollte die Station in wenigen Monaten gezielt abstürzen.
Als Russland 2024 den ISS-Projektvertrag nicht verlängert hatte, brach ein
großer Teil des Budgets weg, den nicht mal der kommerzielle Gaia-Komplex tragen
konnte. Naomi, Eveline und Aki, die vor fast drei Monaten hier angekommen
waren, würden die letzten Astronauten an Bord der Station sein.
Domas’, Alexanders und seine Mission endete in
drei Wochen am siebenten Dezember.
Schon kurz nach seiner Ankunft vermisste Juri
seine Familie, doch sobald er wieder auf der Erde lebte, würde er sich nach dem
Leben im All sehnen. Sein Vater sagte immer, ein erfüllter Wunsch habe zwei
neue im Gepäck. Das stimmte.
Mit achtunddreißig war Juri nicht zu alt für
einen dritten Einsatz, doch eine Garantie gab es nie. Es gab viele andere
Astronauten, die alle auf einen Einsatz im All hofften und etwa vier
US-Astronauten im Jahr kamen in den Genuss ins All zu reisen. Vielleicht sollte
er sich parallel an eines der Privatunternehmen wenden. Dort wäre seine Chance
größer.
»Kurze Pause«, sagte Domas und riss ihn aus
seinen Gedanken. Offenbar hatte er bemerkt, dass Juris Konzentration
nachgelassen hatte.
Sie hielten inne und hinderten die Box am
Davonschweben, indem sie diese sanft anstießen, wenn sie sich einer Wand zu
sehr näherte.
»Hast du was von Lilly gehört?«, fragte ihn
Domas in die entstehende Stille hinein.
»Nein, die Internet- und Telefonverbindung
funktioniert noch immer nicht. Aber Mikail hat mir gestern gesagt, dass er sich
darum kümmert.«
Mikail war vor drei Tagen auf der ISS
angekommen. Der schwedische Techniker war rund um die Uhr im Gaia-Komplex
beschäftigt und hatte Aki in seine Arbeit eingebunden. Heute testeten sie ein
Lautsprechersystem auf der Station. Unentwegt erschallte ein »Test« in den
Modulen der Raumstation.
»Ich dachte, da sie im Space Center arbeitet,
hätte sie mit dir Funkkontakt aufgenommen.«
»Nein. Sie meinte vor ein paar Tagen, dass
Anton kränkelt. Vermutlich ist sie bei ihm.«
»Verstehe. Hoffentlich behebt Mikail die
Störung bald. Ich würde gern wieder von Zofia und den Kindern hören.«
Das hoffte Juri auch. Selbst bei einem
harmlosen Infekt wollte er wissen, wie es Anton ging.
»Weiter geht’s«, sagte Domas.
Juri ließ die Box vorsichtig los und begab
sich wieder nach vorn.
Sie passierten das Unity-Modul. Naomi und Alex
verbrachten hier gerade ihre Mittagspause. Aus den geöffneten Dosen drang der
Duft von Ravioli. Juris Magen knurrte sehnsuchtsvoll, doch seine Pause musste
noch warten. Sie mussten noch Destiny durchqueren, bevor sie ihr Ziel
erreichten: das Harmony-Modul, an das der Dream Chaser angedockt war.
Knapp zwanzig Minuten benötigten sie für den
Weg dorthin. Mit Spanngurten sicherten sie die Kiste im Laderaum, der sich
zunehmend füllte.
Juri sah auf seine Uhr. »Machen wir Pause. Es
ist kurz vor eins und ich verhungere schon.« Sein Magen knurrte nur noch lauter
als zuvor.
Domas lachte. »Das kann ich wohl kaum
zulassen.« Er klopfte auf Juris Schulter und gemeinsam kehrten sie zum
Unity-Modul zurück, das auch als Küche diente. Darin befand sich der Foodmaker,
eine Maschine, die Wasser in Trockennahrung leitete oder das Essen aufwärmte.
Der Klapptisch war heruntergeklappt, um ihn
herum schwebte nahezu die ganze Crew, auf dem Tisch waren leere Dosen. Ihre
Pause ist zu Ende. Wegen des straffen Zeitplans variierten die Pausenzeiten.
Manchen Crewmitgliedern begegnete Juri den ganzen Tag nicht. Und nun alle auf
einmal? Nur Aki und Mikail fehlten.
Domas bremste am Moduleingang ab. »Was ist
denn hier los?« Nicht nur Überraschung schwang in seiner Stimme mit. Juri
entging Domas’ Stirnrunzeln nicht. Als Kommandant musste er dafür sorgen, dass
alles reibungslos verließ, das beinhaltete auch den Arbeitsablauf.
Alexander drehte den Kopf zu ihnen. »Es gibt
neue Anweisungen. Es werden heute zwei bemannte Kapseln andocken. Eine 15:12
Uhr, die andere 16:27 Uhr. Ich wollte euch gerade suchen, da brach das Signal
ab.«
Juri traute seinen Ohren nicht. Andockmanöver
brauchten Vorbereitungen, weshalb nie mehr als eines pro Tag erfolgte.
»So kurzfristig? Warum?«, fragte Juri.
Naomi zuckte mit den Schultern. »Das wüssten
wir auch gern. Mikail und Aki arbeiten daran, die Verbindung
wiederherzustellen. Vielleicht haben sie bei ihren Versuchen eine Störung
ausgelöst.«
Vor allem anfangs verliefen die Testdurchläufe
der beiden nicht reibungslos. Manches Mal war der Toncheck von einem Piepen
einer Rückkopplung begleitet worden, das ihm eine Gänsehaut beschert hatte.
Den genauen Grund für die
Lautsprecherinstallation konnte er nur raten, denn Mikail sprach kein Wort mehr
als nötig. Womöglich handelte es sich um eine Vorbereitung für die Abkopplung
der Gaia-Module, die zur kommerziellen Nutzung im All verbleiben würden. Warum
das aber auch bei der ISS gemacht wurde, erschloss sich ihm nicht.
Domas wandte sich an die Crew. »Solange hier
Funkstille herrscht, können wir nicht viel tun. Wir zwei machen Pause und geben
Bescheid, wenn die Verbindung wieder funktioniert. Ihr geht inzwischen wieder
an die Arbeit. Der Zeitplan verkürzt sich durch die Neuankömmlinge.«
Nach und nach verließen alle das Modul, wobei
Eveline am längsten blieb. Sie stellte sich absichtlich hinten an, um ihren
Müll zu entsorgen, obwohl sie sonst immer eine der Ersten war.
Juri schmunzelte, als er das beobachtete. Sie
hoffte sicher, dass jede Sekunde der Funkkontakt wiederhergestellt wurde, damit
sie von Anfang an dabei sein konnte, wenn sich die Situation aufklärte. Nichts
dergleichen geschah und so verließ auch die Französin den Pausenraum.
Juri schwebte zu den Fächern mit den Gerichten
der Crew und öffnete die kleine Tür mit seinem Namen drauf. Dort sah er seine
Essensvorräte durch und fand eine letzte Puddingtüte, versteckt zwischen den
Tortillas. Das hieß, heute gab es ein Dessert zum Mittag. Lilly sagte immer
wieder, er müsste kugelrund sein, so gern, wie er süße Gerichte aß. Trotzdem
war er schlank, worum sie ihn beneidete.
Heißes Wasser verwandelte das Puddingpulver in
der Tüte in seine Nachspeise. Damit schwebte er zum Tisch und nahm gegenüber
von Domas Platz. Spannbänder, Klettstreifen und Duct Tape hinderten das Essen
in der Schwerelosigkeit am Davonfliegen.
»Was denkst du?«, fragte Juri Domas in die
Stille hinein, während er seine Tortilla belegte.
Sein Kollege zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht ein wichtiges Projekt, das sich kurzfristig ergab, oder ein paar
Millionäre, die unbedingt noch vor Weihnachten ins All wollen. Nichts
Weltbewegendes.«
Juri hielt inne und sah zu Domas, als dieser
sich räusperte. Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. »Außerdem würden
sie uns runterholen, wenn etwas nicht stimmt, statt Leute zu uns
hochzuschicken.«
Das ergab durchaus Sinn, trotzdem behielt Juri
den Laptop in der oberen Ecke im Auge. Das Programm zur Steuerung des
Funkgerätes war geöffnet, die Funkanlage blinkte. Normalerweise nutzten sie
Videochats, aber aufgrund der fehlenden Internetverbindung kommunizierten sie
seit Tagen über Funk.
Schweigend aß Juri seinen Pudding. Das
Vanillearoma vertrieb den herzhaften Geschmack des Wraps. Juris Bewegung war zu
schwungvoll, denn der Pudding schwebte von seinem Löffel davon. Juri verfolgte
ihn und fing sein Dessert mit dem Mund, bevor er zu Domas zurückkehrte.
Der stechende Geruch von Tabasco-Sauce drang
zu ihm. Der Geruch war so unangenehm, dass Juri das Gesicht verzog.
»Willst du?«, fragte Domas ihn belustigt.
An einem der ersten Tage auf der Station hatte
er Juri die Sauce angeboten. Er meinte, da hier oben durch die veränderte
Flüssigkeitsverteilung die Nase zuschwelle und entsprechend der Geschmackssinn
nachlasse, merke er die Schärfe nicht, doch es verleihe dem Essen etwas mehr
Geschmack. Juri war skeptisch, nahm aber das Angebot an. Dann biss er in sein
Sandwich. Sein Mund schien augenblicklich in Flammen aufzugehen und Tränen
schossen ihm in die Augen. Der Pudding war das, was lindernden Milchprodukten
am nächsten kam. Dennoch verfolgte ihn der brennende Schmerz noch über eine
Stunde. Juri hatte sich einen Edding geschnappt, Domas Namen und drei
Ausrufezeichen auf die Flasche geschrieben.
»Lass mich überlegen … nein.«
Domas lachte nur und aß weiter. Das Lachen war
nicht das herzlich-fröhliche, wie Domas es oft zeigte. Es glich eher dem, wenn
ein Witz nicht verstanden wurde und ein Lachen erwartet wurde.
»Alles –« Ein Knistern unterbrach Juri, dann
hörten sie eine stark verrauschte Stimme, die langsam klarer wurde.
»Hören Sie mich?« Die Bodenkontrolle
wiederholte diese Frage mehrmals. Domas schwebte zum Funkgerät.
»Ja, wir hören Sie. Mit wem spreche ich?«
Domas drehte sich um und deutete zur Tür. Juri nickte und befestigte sein Essen
auf dem Tisch. Dann stieß er sich ab.
»Ich bin Melvin Fox.«
Juri hörte nicht mehr, was die beiden
besprachen, denn er ließ das Unity-Modul hinter sich. Er wusste nicht, wo alle
waren, also hangelte er sich systematisch durch die Module. Er stoppte nicht,
wenn er sagte, dass der Kontakt wieder hergestellt war. Falls Domas wartete,
bis alle da waren, dann sollten sie sich schnell einfinden. Der Kontakt war
einmal abgebrochen und er könnte es ein zweites Mal.
Die meisten waren bereits im Unity, nur Alex
erreichte mit ihm zusammen das Modul.
»Aki ist bei Mikail, aber sie haben im Gaia-1
ebenfalls eine Verbindung. Sie bekommen alles mit«, sagte Juri.
Domas wandte sich wieder dem Funkgerät zu.
»Wir sind vollzählig. Sie haben vorhin etwas von zwei bemannten Kapseln
erzählt, die kurz nacheinander andocken werden. Das hat für Verwirrung gesorgt.
Ich bitte um Aufklärung.«
Melvin schwieg und Juri befürchtete, die
Verbindung sei wieder zusammengebrochen. Nach einigen Sekunden drang die Stimme
des Bodenarbeiters aus den Lautsprechern.
»Es sind Wissenschaftler, die im Gaia-Komplex
arbeiten werden. Der Abflug letzte Woche wurde aufgrund technischer
Sicherheitsbedenken abgesagt, sodass sich die neuen Starts überschnitten. Daher
sind sie von zwei verschiedenen Orten ins All gestartet. Die Kommunikation mit
den Instituten weist noch ein paar Schwachstellen auf, deshalb haben Sie nichts
erfahren. Kein Grund, sich Gedanken zu machen. Statt eines Andockmanövers
werden es zwei sein. Die Crew-Dragon-Kapsel wird bei Gaia-2 ankoppeln, die Orel
bei Rasswet. Das Andocken bemannter Schiffe an Gaia-2 wurde noch nicht erprobt.
Es werden daher Domas Wozniak, Naomi Hobbs und Juri Andrej Mironow als
durchführende Besatzung vorgeschlagen. Ein viertes Besatzungsmitglied wird
benötigt. Wen schlagen Sie vor, Kommandant?«
Domas’ Blick wanderte über die Anwesenden. Die
Unerfahrenen hofften in diesem Moment auf ihr erstes Andockmanöver in der
Praxis, das wusste Juri aus eigener Erfahrung.
»Naomi Hobbs und Juri Andrej Mironow
überwachen das Andockmanöver an Gaia-2. Ich, Kommandant Domas Wozniak, werde
mit Alexander Riek das Andocken an der Rasswet beaufsichtigen. Bitte um
Bestätigung.«
»Bestätigt und im System erfasst.«
Juri sah zu Alex, der lächelte. Solche Manöver
lösten immer Aufregung aus, vor allem bei der ersten Mission.
»Gut, 15:05 Uhr erwarten wir Rückmeldung von Gaia-2, 16:15 Uhr von Rasswet«, sagte Melvin.
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