Mittwoch, 16. März 2022

[Schnipseltime] Geschichten von A bis Z: Anthologie von der Autorengemeinschaft Aussagekräftig




Anja Brand
(...) Einzelhandel und Gastronomie mit ratlosen Betreibern. Kinos, Theater, Museen, Sportstätten, alles geschlossen wie auch Schulen, Kindergärten und Universitäten. Nur Apotheken und Lebensmittelgeschäfte zur täglich nötigen Versorgung durften weiterhin ihre Kundschaft bedienen. Ärzte und Krankenhäuser versahen ihre Dienste, wobei die Krankenhäuser und Altenheime keine Besucher mehr einließen.
Keine Besucher, unvorstellbar! Ein alter Mensch in der letzten Phase seines Lebens war eingesperrt. Hatte nur telefonischen Kontakt zu seinen Liebsten, ohne zu wissen, ob man sich jemals wiedersieht. Ein kranker Mensch, vor oder nach einer schweren Operation, mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung, vielleicht ohne Hoffnung auf Besserung oder Genesung, manchmal sterbend ohne seine Familie, ohne Beistand, ohne Abschied. Die Grausamkeit hatte einen Namen: LOCKDOWN.
Dazu kamen Maskenpflicht, Abstände einhalten und hygienische Maßnahmen. Es begannen Hamsterkäufe. Hefe, Mehl, Toilettenpapier wurden zu Mangelwaren.(...)




Enya Kummer
(...)»Diebstahl«, er verschwindet.
Im Laden, bei den Regalen mit Brotwaren, stehen Markus, Sanne und Kim.
Flankieren einen Typen mit fast schulterlangen fettigen Haaren. Auch die Kleidung sieht nicht sauber und gepflegt aus. Braune Cordhose, ein Norwegerpulli, darüber eine zerschlissene dünne Jacke. Stiefel ohne Schuhbändel. Der Mann ‒ das Alter kann ich nicht schätzen ‒ hält den Kopf gesenkt, hat die Hände gefaltet.
»Er hat das Brot und einen Sandkuchen unter seiner Jacke versteckt.« Sanne hält mir die Ware hin.
Du liebe Zeit, wohl ein Obdachloser, so wie er ausschaut. Und mal keine Schnapsflasche wie öfter bei diesen Menschen. Ob der wirklich Hunger hat?
»Bring ihn in mein Büro«, sage ich zu Markus.
Ich habe ein komisches Gefühl, als der Typ mir da gegenübersitzt. Es ist offensichtlich, dass er sich schämt. Franz Mager heißt er, der Name passt, denn an ihm ist nicht viel dran. Seinen Perso hat er mir gezeigt, ein altes Dokument, verklebt und eingerissen.
»Wo wohnen Sie, Herr Mager?« Als ich die Frage stelle, weiß ich sofort, wie sinnlos die ist.(...)


Sigrid Wohlgemuth
(...)Die Mädchen liefen zu ihren Schränken und schauten sie durch. Doch bis auf die Strickjacke fand sich nichts, was gut und schön genug für ein Weihnachtsfest wäre und die Mädchen nicht selbst tragen würden. Ich beobachtete meine Freundinnen dabei, wie sehr sie sich bemühten, etwas zu finden.
Langsam wurde mir mulmig im Bauch. Wenn wir nichts fänden, wäre dann das Weihnachten für mich gelaufen? Nein! So durfte ich nicht denken. Es sollte doch mein allererstes Weihnachtsfest sein, außerhalb der Heimmauern. In diesem Jahr waren alle Kinder vermittelt worden, und sogar Frau Beier würde zu ihrer Schwester fahren können, die sonst immer zu ihr kam, wenn Kinder zurückgeblieben waren. Und ich wusste, sie freute sich darauf und das durfte jetzt einfach nicht sein, dass sie wegen mir darauf verzichten müsste, nur weil ich kein schönes Kleid im Schrank hatte. Ich lief aus dem Raum, durch den Flur und klopfte an Frau Beiers Bürotür.(...)


Carola Meisner-Isbach
(...)Die vierjährige Tochter saß zusammengekauert mitten auf dem Fliesenboden. Ihre Beinchen eng an ihren Körper gezogen und die Arme schützend vor den Schreien um ihren Kopf geschlungen. Kein Laut kam über ihre Lippen, nicht ein Schluchzen war zu vernehmen.
Christian konnte nicht erkennen, warum Stefanie so ausflippte. Es lagen keine Scherben auf dem Boden, nichts war verschüttet, alles war ordentlich. Ein schmerzhafter Stich durchfuhr seinen Magen, der ihm für einen Moment die Luft nahm.
Seine Vaterliebe trieb ihn an. Er huschte ins Wohnzimmer und als er an seiner Frau vorbeigehen wollte, krallten sich ihre Fingernägel schmerzhaft in seinen Arm. Mit einem Ruck zog sie Christian von Marie weg.
Aus ihren Augen loderte der Zorn, der sich nun gegen ihn richtete. »Du mischst dich jetzt nicht wieder ein!« Ein harter Faustschlag traf ihn an der Brust. »Du nimmst diese Nervensäge nicht in Schutz …«, fauchte Stefanie, während sie ihm einen heftigen Stoß verpasste. Christian kämpfte damit, sich auf den Beinen zu halten, als ihn schon der nächste Schlag auf den Oberarm traf. Abwehrend hob er die Arme vor seinen Körper, um ihren Attacken zu entgehen. Eine Salve von Beschimpfungen und Faustschlägen prasselte auf ihn ein, dann ließ sie von ihm ab und rauschte aus dem Zimmer.(...)


Marion Peters
(...)»Hach, ich weiß noch, dass ich mich mit Händen und Füßen verständigt habe, um eine Unterkunft in der arabisch-sprechenden Region um Nedroma zu finden. Meine Reise bis Windhuk dauerte noch einmal fast drei Monate. Ich bin durch Niger gekommen, habe das bevölkerungsreichste Land Afrikas, Nigeria, durchquert, war zwei Wochen in Kamerun und habe die Republik Kongo besucht.« Minna wird ganz melancholisch.
»Ich weiß, dass es unmöglich ist, aber ich wünschte, ich könnte noch einmal in diesem Leben Afrikas Sonne auf meiner Haut spüren und den Duft einatmen. Dieser Kontinent ist so weit, reich an Farben und es riecht so unfassbar gut!« Falk schaut Minna fragend an. »Na so würzig, warm, ein bisschen nach Räucherstäbchen und auch ein bisschen süßlich«, versucht Minna, ihre Erinnerung näher zu beschreiben. »Gegrillte Heuschrecken mit Zwiebeln und Essig oder Hühnergurgeln schmecken übrigens wirklich köstlich«, sie zwinkert Falk zu.
Der verzieht das Gesicht vor Ekel. »Ich geniere mich gerade, dass ich mich nicht einmal traue, dein Oshifima zu kosten.«
Das bringt Minna erneut zum Lachen. Draußen ist es längst dunkel geworden, der Tee ist ausgetrunken und der Gong der alten Standuhr schlägt neunmal und klingt dabei regelrecht schwerfällig. Minna erschrickt und ist ein bisschen traurig, weil sie feststellt, dass der Tag schon vorüber ist. »Mein lieber Falk, es ist schon spät. Ich danke dir für diesen wunderschönen Nachmittag und deine Geduld, dir meine alten Geschichten anzuhören.« (...)


Marlies Hanelt
(...) Endlich fällt das Netz auf den Boden des Bootes. Acht Augenpaare blicken stumm mit aufgerissenen Mündern auf den Inhalt des Netzes. Anstatt des reichhaltigen Fanges prächtiger Jita-Fische haben sich Skelette im Netz verhakt. Um ihre abgenagten Hälse tragen sie jenen Goldschmuck, an dem mystische Amulette hängen, die von ihrem einstigen Glanz nichts eingebüßt haben. Strahlen um die Wette und heller denn je. Ist es jener Rest des güldenen Schatzes, während der Hauptteil unter der Erde Aparajitas begraben liegt und niemals gefunden werden will?
Aus den leeren Augenhöhlen der weißen Schädel gähnt die Rache. Einige Knochen und Schädel wiegen sich im wenigen Wasser hin und her, das vom Netz getropft ist.
»Männer!«, brüllt Rukrem in die dröhnende Stille hinein. »Lasst uns von hier verschwinden! Nehmt den Goldschmuck einfach aus dem Netz und werft die Knochen über Bord! Mein Verstand sagt mir, dass wir nach Andalus zurückrudern sollten!«
Sieben Fischer folgen daraufhin dem Befehl ihres Anführers, in dessen Gesicht sich die pure Angst breitmacht.
»Macht schon. Dreht um, und …!« Weiter kommt Rukrem nicht. Denn obwohl die Fischer wie die Verrückten rudern, verharren die Boote auf der Stelle. Scheinen mit dem Ozean verschmelzen zu wollen. Dann gerät das makaber wirkende Spiel völlig aus dem Ruder, als die Holzkähne beständig in Richtung Aparajita gezogen werden. Führen die Seelen einen königlichen Rachefeldzug? So lange, bis sie endlich ihre wohlverdiente Ruhe finden? (...)


Rita Hajak
(...) Die Sonne war zu einem Glutofen mutiert. Sie begann, die Erde zu vernichten. Feuer entzündete sich, rundherum fing es an zu brennen.
»Die Erde stirbt und wir mit ihr.« Nackte Angst stand Maren im Gesicht.
Thorsten hob die Kinder hoch und alle vier hielten sich fest umschlungen. Wo sollten sie hingehen, es gab keinen Ausweg. Jegliches Gefühl war ihnen genommen. Sie spürten nichts mehr und konnten sich nicht von der Stelle rühren. Das Ende nahte. Eine mächtige Feuerlohe stürzte auf sie nieder.
Sie schlossen die Augen und fühlten sich empor gehoben. Um sie herum war es dunkel und dennoch sahen sie sich, klammerten sich aneinander. Das starke Band der Liebe hielt sie zusammen. Kein Geräusch war zu hören. Die Zeit schien still zu stehen. Sanft getragen schwebten sie durch die Finsternis.
»Es ist das Universum«, flüsterte Thorsten.
»Sind wir tot?«, fragte Sebastian.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Maren.
Aus der Ferne sahen sie einen Lichtstrahl näher kommen.
»Da ist was!« Maren hob die Hand und winkte.
»Vielleicht ein Stern oder ein Raumschiff?«, vermutete Thorsten. (...)


Elsa Rieger
(...) Hunger hatte sie auch. Da und dort standen Kleinbusse auf dem Woodstock-Areal, die Essen ausgaben, einer schien ihr nicht weit entfernt. Liz stapfte los. Jeder Schritt Mühsal, der Schlamm schmatzte empört, wenn sie einen Fuß hob.
Dann stand sie vor dem Bus. Es roch säuerlich, zugleich lecker.
Der Beatnik, der den Stand betrieb, grinste. »Cooles Wetter, was?« Er schob jemandem Pappteller mit Würstchen und einem Haufen Sauerkraut zu.
Sauerkraut, ekelhaft. Sofort fluteten Liz’ Erinnerungen. Im Kinderheim gab es das oft, war schleimig totgekocht, der Teller musste geleert werden, und wenn man bis abends im Speisesaal hockte.
»Könnte ich vielleicht nur Würstchen …?«
»Komm rein, du bist quatschnass.« Er reichte ihr die Hand und Liz griff danach.
Im Bus war es herrlich warm.
»Ich bin Jack, hier.« Er gab ihr ein Handtuch, sie rubbelte die triefenden Haare trocken.
»Liz. Und ich hasse Sauerkraut.«
»Meins wirst du lieben.«
Sie wollte nicht ablehnen und probierte vorsichtig. Da war keine Mehlpampe drin, es schmeckte saftig, frisch, war von angenehmer Säure.
»Na?«
»Ja, deins liebe ich.« Sie hatte ihm den Pappteller hingehalten, wollte mehr vom guten Zeug, bekam es auch und außerdem den ersten Kuss von Jack. Danach das Patchworkkissen, als sie gemeinsam unterwegs waren. »Wie in einem Roadmovie rollten wir durch die USA, war schön, bis …«, darüber wollte Liz jetzt nicht nachdenken. »Vermutlich lebt er nicht mehr, bei seinem damaligen Drogenkonsum, kann ich mir nicht vorstellen.« (...)

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